Presse | DGPPN Kongress 2025
Schwerpunkt: Versorgung

Personenzentriert, flexibel und gut koordiniert: Für eine bedarfsorientierte Versorgung

Immer mehr Menschen fühlen sich psychisch belastet und suchen professionelle Unterstützung. Ihnen genau die Hilfe zukommen zu lassen, die sie benötigen, ist das Ziel einer modernen, personenorientierten, psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung. Dafür sind dringend Reformen nötig – im Bereich der ambulanten und stationären Therapie, aber auch der Rehabilitation und Wiedereingliederung sowie nicht zuletzt der Steuerung im Versorgungssystem.

Die DGPPN-Expertinnen und Experten

Prof. Dr. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank
Die DGPPN-Präsidentin ist Ärztliche Direktorin des psychiatrischen Fachkrankenhauses LVR-Klinik Köln und Fachliche Direktorin Forschung des LVR-Instituts für Forschung und Bildung. Sie leitet dort die Sparte Versorgungsforschung.
Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank steht Ihnen im Rahmen der Eröffnungspressekonferenz am 26.11.2025 um 12:00 Uhr für Fragen zur Verfügung. 

Prof. Dr. Katarina Stengler
Die Leiterin des DGPPN-Referats Rehabilitation und Teilhabe ist Direktorin des Zentrums für Seelische Gesundheit am Helios Park-Klinikum Leipzig und Chefärztin der dortigen Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie
Katarina Stengler steht Ihnen am 26.11.2025 um 15:00 Uhr in Raum 013 für Fragen zur Verfügung.

Dr. Raoul Borbé
Der Leiter des DGPPN-Referats Gemeindepsychiatrie ist seit diesem Jahr Vorsitzender des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit. Am Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg in Ravensburg leitet er die gemeindepsychiatrischen Angebote, zudem die Psychiatrische Institutsambulanz der Universität Ulm.
Raoul Borbé steht Ihnen am 27.11.2025 um 15:00 Uhr in Raum 013 für Fragen zur Verfügung.

 

Zum Kongressbeginn werden hier Zitate aller Expertinnen und Experten freigeschaltet.

Prof. Dr. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank: Was wir für eine individuelle, bedarfsorientierte, stationäre und ambulante psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung brauchen

„Psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlungen müssen sich am Bedarf der Betroffenen ausrichten. Dafür benötigen wir einen niedrigschwelligen Zugang zum Versorgungssystem und ausreichend Ressourcen – gerade für die Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen.

Im Bereich der Krankenhausversorgung werden dafür realistische Vorgaben für Mindestpersonalgrenzen und ein echtes Personalbemessungsinstrument benötigt, zudem müssen Krankenhäuser ihre Mittel flexibel einsetzen können. Nur so wird eine individuelle und koordinierte Behandlung möglich.

Die Flexibilisierung des Ressourceneinsatzes erreichen wir in der Krankenhausversorgung am besten durch den Einsatz von Globalbudgets. Die Evaluation der Modellprojekte nach § 64b SGB V hat gezeigt, dass wir mit Globalbudgets individueller und insgesamt wirtschaftlicher versorgen können. Sie müssen deshalb unbedingt in die Regelversorgung übernommen werden.

Um die knappen Ressourcen optimal einzusetzen, muss die Versorgung darüber hinaus klug gesteuert werden, dabei muss der Zugang zum System aber möglichst barrierefrei sein. Gerade im Zuge der Diskussion um das Primärarztsystem muss unbedingt darauf geachtet werden, dass für psychisch Erkrankte keine weiteren Zugangshürden aufgebaut werden. Es reicht deshalb nicht, Ausnahmen für nur den Teil der Menschen mit psychischen Problemen zu schaffen, die eine psychotherapeutische Behandlung suchen. Der direkte Zugang zu allen Angeboten der Psychiatrie und Psychotherapie muss für Betroffene erhalten bleiben.

Um tatsächlich bedarfsorientiert zu behandeln, muss schließlich gewährleistet sein, dass Menschen mit einem höheren Unterstützungsbedarf auch mehr Leistungen bekommen – im Bereich der Therapie und auch der Rehabilitation und Eingliederungshilfe. Voraussetzung dafür ist eine umfassende regionale Versorgungsverantwortung, die nicht an den Grenzen des SGB V Halt macht. Denn die Unterstützung, die eine Person erhält, darf nicht davon abhängig sein, wo sie wohnt, wie sie versichert ist oder in welchem Sozialgesetzbuch die jeweilige Zuständigkeit geregelt ist.“

Prof. Dr. Katarina Stengler: Warum Teilhabe kein Luxus ist

„Teilhabe ist der eigentliche Maßstab einer modernen psychiatrischen Versorgung. Neben der Behandlung der Symptomatik muss es immer auch darum gehen, Menschen mit psychischen Erkrankungen in ihrem sozialen Lebenskontext zu stärken – insbesondere in Bezug auf Arbeit, Wohnen und die soziale Gemeinschaft. Leider gelingt es bei schweren psychischen Erkrankungen nicht immer, dass Betroffene nach einer Behandlung dauerhaft am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Gerade an den Schnittstellen zwischen Behandlung, Rehabilitation und Teilhabe werden individuelle Unterstützungsangebote noch nicht ausreichend niedrigschwellig und barrierearm vorgehalten.

Dabei wissen wir: Teilhabe ist kein ‚Luxus‘, sondern Teil des Genesungsprozesses selbst. Teilhabeorientierte Versorgung bedeutet, von Anfang an gemeinsam mit den Betroffenen daran zu arbeiten, auch mit schwerer psychischer Erkrankung ein in allen Lebensbereichen selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Genau das betont auch die gerade aktualisierte S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien, die den Stellenwert von Rehabilitation und Recovery weiter stärkt: Psychiatrische Behandlung soll nicht nur Symptome lindern, sondern Lebensperspektiven eröffnen.

Damit das gelingt, müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Noch immer verhindern starre Grenzen zwischen Gesundheitswesen, Sozialhilfe und Arbeitsförderung, dass Menschen die Unterstützung erhalten, die sie individuell und bedarfsorientiert benötigen. Es braucht koordiniertes regionales Handeln, verbindliche Verantwortlichkeiten und verlässliche Übergänge.

Wir brauchen deshalb eine verlässliche, integrierte Teilhabeplanung: regional, sektorenübergreifend und personenzentriert. Flexible Finanzierungsinstrumente, etwa über gemeinsame Budgets, würden die individuelle Versorgung vereinfachen. Ebenso wichtig ist die Förderung von Maßnahmen, die Selbstbestimmung und Beteiligung stärken – zum Beispiel durch den Einsatz von Peer-Beraterinnen und -Beratern oder durch Supported Employment-Programme, die den unmittelbaren Einstieg in den Arbeitsmarkt unterstützen.

Teilhabe ist ein Menschenrecht. Sie ist zudem der Prüfstein dafür, ob unsere Versorgung wirkt und erfolgreich ist."

Dr. Raoul Borbé: Gelebte Gemeindepsychiatrie.

„Die Gemeindepsychiatrie bietet Leistungen für Menschen mit schweren psychischen Störungen, aber auch niederschwellige Beratung und Hilfen für Menschen in psychischen Krisen und deren Angehörige. Sie ist der Ort, an dem Prävention, Therapie, Rehabilitation, Eingliederungshilfe, Pflege und Teilhabe praktisch zusammenkommen: personenzentriert, im Lebensfeld und koordiniert.

Gelebte Gemeindepsychiatrie kann nur durch ein gemeinsames Verständnis aller Leistungserbringer für Menschen mit psychischen Störungen gelingen. Psychiatrische Kliniken, niedergelassene Fachärztinnen und Fachärzte, Psychologische Psychotherapeutinnen und -therapeuten, Leistungserbringer der Eingliederungshilfe und der Pflege und die sozialpsychiatrischen Dienste müssen dafür an einem Strang ziehen.

Leider sind die gemeindepsychiatrischen Strukturen in Deutschland auch 50 Jahre nach der Psychiatrie-Enquete noch immer heterogen, fragmentiert und regional sehr unterschiedlich. Auch fehlt eine flächendeckende trialogische Einbindung der Betroffenen und der Angehörigen in die Psychiatrieplanung. Viele Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen werden zudem vom Versorgungssystem nicht erreicht oder erhalten ihre Leistungen nur unkoordiniert.

Die Neufassung des SGB IX durch das Bundesteilhabegesetz hat in der Praxis – vor allem durch die Trennung von Fach- und existenzsichernden Leistungen, durch neue Bedarfsermittlungsverfahren und unklare Zuständigkeiten – zu erheblichem bürokratischem Aufwand und zu großer Verunsicherung auf allen Seiten geführt.

Um Klarheit und Verlässlichkeit für sowohl Betroffene als auch für die Leistungserbringer zu schaffen, braucht es verbindliche, regional koordinierte Netzwerkstrukturen, die medizinische, psychosoziale und rehabilitative Angebote eng verzahnen, wie beispielsweise die gemeindepsychiatrischen Verbünde. Für die verlässliche Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen mit allen nötigen Leistungen ist auch in der Gemeindepsychiatrie eine regionale Pflichtversorgung, wie sie für die stationäre Psychiatrie besteht, anzustreben. Dafür sollten im jeweiligen Versorgungsgebiet ausreichend Angebote in allen wichtigen psychosozialen Funktionsbereichen zur Verfügung stehen.

Gemeindepsychiatrische Verbünde dürfen kein Zufallsprodukt sein – sie müssen überall und für alle Betroffenen verbindlich funktionieren. Dafür brauchen wir verbindliche, politische, bundesweit geltende, Leitplanken.“

Kongressveranstaltungen zum Thema

  • Mi 12:00 Uhr, Meet-the-Expert Eva Fučík: Niedrigschwellige Behandlung wohnungsloser Menschen – Bedarf, Notwendigkeit und besondere Herausforderungen am Beispiel einer Praxis für Wohnsitzlose (Saal A1)
  • Mi 15:30 Uhr, Symposium: Psychiatriepolitik in unsicheren Zeiten: zwischen Kostendämpfung und dem Schutz Betroffener (Raum M8)
  • Do 08:30 Uhr, Symposium: Psychosoziale Krisendienste in Deutschland: aktueller Stand und künftige Entwicklungsperspektiven (Raum M4)
  • Do 10:15 Uhr, Präsidentensymposium: 50 Jahre Psychiatrie-Enquete – ein Aufbruch, der verpflichtet (Saal A6)
  • Do 13:30 Uhr, Symposium: Echte (!) Pflichtversorgung für schwer psychisch erkrankte Menschen – was muss das heißen und wie geht das? (London 1)
  • Do 15:30 Uhr, Symposium: Stadt – Land – Fluss, nein Gefälle: regionale Versorgungsaspekte (Raum M1)
  • Fr 08:30 Uhr Symposium: Regionalität, Versorgung und Teilhabeförderung – Auftrag zur Sicherstellung an alle?! (New York 1)
  • Fr 13:30 Uhr, Symposium: Interkulturelle Öffnung des psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungssystems in Deutschland auf dem Prüfstand (Paris 2)
  • Fr 13.30 Uhr, Diskussionsforum: Quo vadis PPP-RL: personelle Mindestvorgaben für Psychiatrie und Psychosomatik (Saal A5)
  • Fr 15:30 Uhr, Symposium: Stationsäquivalente Behandlung (StäB) und andere aufsuchende Behandlungsformen: Evidenzen zur mittelfristigen Wirksamkeit, der Rolle der Angehörigen und störungsspezifischen Ansätzen aufsuchender Behandlungsformen (Paris 2)
  • Fr 15:30 Uhr, Symposium: Globale Psychiatriebudgets: jetzt erst recht! (London 1)
  • Fr 17:15 Uhr, Diskussionsforum: StäB – Fortschritt oder Fehlentwicklung? Kontroverse zur stationsäquivalenten Behandlung (Paris 1)
  • Sa 08:30 Uhr, Symposium: Politische Steuerung der psychiatrischen Versorgung: Psychiatriepolitik in der Praxis (Saal A7)
  • Sa 10:15 Uhr, Präsidentensymposium: Rahmenbedingungen der Behandlung von psychisch belasteten Geflüchteten und Asylsuchenden in Deutschland (Saal A1)
  • Sa 10:15 Uhr, Symposium: Von der Idee zur Regelversorgung: die gemeindepsychiatrische Basisversorgung als zukunftsweisendes Versorgungsmodell (London 3)
  • Sa 12:30 Uhr, Symposium: Soziale Teilhabe als Kernaufgabe der psychiatrischen Versorgung – Interventionen zur Förderung von Teilhabe in Arbeit, Familie, Wohnen und Ernährung (Saal A2)
  • Sa 12:30 Uhr, Lecture Stefan Priebe: Gretchenfrage für die psychiatrische Versorgung: Wie hast du’s mit der Region? (Saal A6)
  • Sa 12:30 Uhr, Symposium: Zukunftsperspektiven der Psychiatrie – Chancen und Grenzen der Ambulantisierung (New York 1)

Weiterführende Literatur und Materialien

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