In die Zeit des Nationalsozialismus fällt das dunkelste Kapitel der deutschen Psychiatrie: Mindestens 250.000 psychisch Kranke und Behinderte fielen dem sogenannten Euthanasieprogramm zum Opfer. Psychiater waren maßgeblich an der Zwangssterilisierung von bis zu 400.000 vor allem psychisch kranker und geistig behinderter Menschen beteiligt. Jüdische und politisch missliebige Psychiater wurden verfolgt und aus Deutschland vertrieben. Wie konnte es dazu kommen?
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts diskutierten Ärzte und Gesundheitspolitiker – nicht nur in Deutschland – über mögliche Maßnahmen zur Gesundung des „Volkskörpers“, über „Rassenhygiene“ und Eugenik. Auch die Sterilisation psychisch Kranker und geistig behinderter Menschen sowie der „Gnadentod“ unheilbar Kranker standen bereits im Raum.
Die Geringschätzung, die Ärzte und Gesellschaft psychisch Kranken und geistig behinderten Menschen entgegenbrachten, war während des Ersten Weltkriegs sehr deutlich geworden, als Tausende von Anstaltspatienten verhungerten oder aufgrund von Vernachlässigung starben. Dabei wurden bereits die ökonomischen Kriterien („Ballastexistenzen“) deutlich, die auch während der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1930er Jahre die Diskussionen um Sparpotential prägten.
Das Protokoll der Sitzung der Anstaltsdezernentenkonferenz des Deutschen Gemeindetages vom 11. Dezember 1931 hielt z. B. gleich zu Beginn des Treffens fest, dass „angesichts der einschneidenden Veränderungen auf allen Gebieten des täglichen Lebens, insbesondere im Hinblick auf den Abbau im Schulwesen und in der Jugendfürsorge und auf die Senkung der Lebenshaltung der Familien mit gesunder Erbmasse durch Arbeitslosigkeit, Gehalts- und Lohnkürzung unbedingt die Frage sich aufdränge, in welchem Umfange man noch die Verwendung öffentlicher Mittel zur Erhaltung der kranken oder stark gefährdeten Erbmasse verantworten könne“. Beim nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programm sollte diese ökonomische Argumentation eine maßgebliche Rolle spielen.
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NS-Propagandaplakat, um 1938 (Original im Deutschen Historischen Museum)
Info-Tafel in der Tiergartenstr. 4, vorher vor dem Dienstort Columbushaus am Potsdamer Platz
Die Nationalsozialisten griffen denn auch mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 auf einen preußischen Gesetzesentwurf aus der Weimarer Zeit zurück. Der Zwangscharakter des Gesetzes und die Radikalität seiner Umsetzung machten jedoch neben den ökonomischen Motiven die „rassenpolitische“ Dimension, die die neuen Machthaber damit verfolgten, deutlich. Wer an Schizophrenie, manisch-depressiven Erkrankungen, an erblichen Formen von Fallsucht, Chorea Huntington, Blindheit, Taubheit und schwerer körperlicher Missbildung sowie schwerem Alkoholismus litt, konnte auch gegen seinen Willen unfruchtbar gemacht werden. Über die Sterilisation entschieden die zu diesem Zweck neu eingerichteten „Erbgesundheitsgerichte“ bzw. als Berufungsinstanz die „Erbgesundheitsobergerichte“, deren Mitglieder unter dem Aspekt ihrer ideologischen Nähe zum Regime ausgewählt wurden. Voraussetzung war die Einreichung eines Antrags auf Unfruchtbarmachung entweder durch den Betroffenen, den gesetzlichen Vertreter, einen Anstaltsleiter oder einen Amtsarzt. Auf der Grundlage dieses Gesetzes wurden bis zu 400.000 Menschen sterilisiert.
Seit 1939 plante das Hauptamt II (unter Leitung von Viktor Brack) der „Kanzlei des Führers“ (unter Reichsleiter Philipp Bouhler) die euphemistisch „Euthanasie“ genannte Mordaktion an Patienten in Heil- und Pflegeanstalten. Ärztlicher „Euthanasie-Beauftragter“ wurde Hitlers Leibarzt Dr. Karl Brandt. Der Würzburger Psychiater und Neurologe Prof. Werner Heyde übernahm die medizinische Leitung des Tötungsprogramms; zu seinem Stellvertreter wurde Prof. Hermann Paul Nitsche, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein bei Pirna, ernannt. „Legalisiert“ wurde der Mord durch ein Ermächtigungsschreiben Hitlers vom Oktober 1939, das auf den 1. September, den Tag des Kriegsbeginns, zurückdatiert wurde.
Von der Berliner Zentraldienststelle aus (seit April 1940 in einer Villa in der Tiergartenstraße 4 residierend, woher das Kürzel „T4“ rührt) wurden an die Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich und in die angegliederten Gebieten Meldebogen versandt, die die mit der Patientenbehandlung betrauten Psychiater vor Ort ausfüllten und schließlich etwa 40 von der Zentrale bestimmte Ärzte begutachteten. Sie entschieden über Leben und Tod, ohne die Kranken persönlich gesehen zu haben. Mit den zum Symbol für die „Euthanasie-Aktion“ gewordenen „Grauen Bussen“ wurden die durch ein rotes Plus-Zeichen auf ihrem Meldebogen zur Ermordung bestimmten mehr als 70 000 Patienten aus den Heimen abgeholt und zwischen Januar 1940 und August 1941 nach einem kurzen Aufenthalt in „Zwischenanstalten“ in den sechs Tötungszentren Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Pirna-Sonnenstein, Bernburg und Hadamar im Gas erstickt.
In etwa 30 „Kinderfachabteilungen“ wurden mindestens 5000 physisch und psychisch kranke Kinder und Jugendliche ermordet. Die Tötungen blieben nicht auf das Gebiet des Deutschen Reiches beschränkt. SS und Einsatzgruppen ermordeten bereits im Herbst 1939 im besetzten Polen Patienten psychiatrischer Anstalten.
Offiziell wurde das „Euthanasie“-Programm nach Protesten von Angehörigen und der katholischen Kirche – berühmt wurde in diesem Zusammenhang die Predigt des Bischofs Graf von Galen am 3. August 1941 in Münster – im August 1941 gestoppt.
Das Leiden und Sterben der Patienten war damit aber keineswegs beendet. Tausende verhungerten oder wurden mit Hilfe von Medikamenten in Pflegeheimen und psychiatrischen Einrichtungen bis Kriegsende getötet. Um Kapazitäten für Reserve- und Ersatzkrankenhäuser für Luftkriegsopfer zur Verfügung zu haben, wurden seit 1943 Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten in bombengefährdete Regionen verlegt („Aktion Brandt“) und in den Aufnahmeanstalten mit Luminal oder durch gezielte Vernachlässigung (Hungerkost) ermordet. Die Auswahl trafen nicht mehr die „T4-Gutachter“, sondern Ärzte und Anstaltsleiter vor Ort. Die bekanntesten Tötungsanstalten dieser „dezentralen Euthanasie“ waren „Am Steinhof“ in Wien, Eglfing-Haar, Eichberg, Großschweidnitz, Hadamar, Irsee bei Kaufbeuren, Meseritz-Obrawalde und Tiegenhof. Insgesamt fielen der „Euthanasie“-Aktion 250 000 bis 300 000 Menschen zum Opfer.
Das bei der Tötung in den „Euthanasieanstalten“ eingesetzte Personal und die verantwortliche Abteilung der „Kanzlei des Führers“ stellten ihre Dienste weiterhin in die mörderische NS-Rassenpolitik: Unter der Tarnbezeichnung „Aktion 14 f 13“ führten sie in Himmlers SS-Imperium – den Konzentrationslagern – Selektionen durch, um Tausende kranke, aber auch jüdische und andere in Misskredit geratene Häftlinge auszusondern und sie in den Tötungsanstalten Bernburg, Hartheim und Sonnenstein-Pirna zu ermorden. Zudem bildeten sie den personellen Kern der Vernichtungslager der „Aktion Reinhardt“ auf polnischem Boden, dem Schauplatz des Völkermords an den europäischen Juden 1942/43.
Im Nürnberger Ärzteprozess vom 9. Dezember 1946 bis 20. August 1947, dem ersten der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse, mussten sich Karl Brandt, Hitlers ärztlicher „Euthanasie“-Beauftragter, und Viktor Brack, Organisator in der „Kanzlei des Führers“, vor Gericht für ihre Verbrechen verantworten. Beide wurden zum Tod verurteilt und am 2. Juni 1948 in Landsberg am Lech gehängt. Viele Ärzte und am Krankenmord beteiligtes Personal wurden für ihre Taten jedoch nicht zur Rechenschaft gezogen oder vergleichsweise milde bestraft.
Von Beginn an stellten sich Psychiater in den Dienst der NS-Politik. Ob der Direktor der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie Ernst Rüdin den Kommentar zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ im Juli 1933 mitverfasste, Ärzte die „Erbkranken“ bei den Behörden zur Sterilisation anzeigten, Prof. Werner Heyde die „Aktion T4“ leitete, Psychiater die Meldebogen ausfüllten – wohlwissend was die Konsequenz für die ihnen anvertrauten Patienten war –, medizinische Experimente durchgeführt wurden, jüdische Fachkollegen aus den Standesorganisationen ausgeschlossen wurden oder die Verbrechen nach Kriegsende geleugnet und verharmlost wurden – ohne Initiative und Unterstützung von Psychiatern und anderen Ärzten hätte das nationalsozialistische „Euthanasie“-Programm nicht in die Tat umgesetzt werden können.