DGPPN-Preis für Philosophie und Ethik in Psychiatrie und Psychotherapie

Mit dem Preis für Philosophie und Ethik in Psychiatrie und Psychotherapie würdigt die DGPPN herausragende Beiträge, die dazu beitragen, sowohl aktuelle grundlegende Fragen der Psychiatrie und Psychotherapie als auch der Philosophie, insbesondere in den Bereichen Medizinethik, Anthropologie und Wissenschaftstheorie, sowie der Geistes- und Sozialwissenschaften systematisch zu erörtern.

Die Auszeichnung ist mit insgesamt 6.000 Euro dotiert und wird jährlich auf dem DGPPN Kongress im November in Berlin verliehen.

preisverleihung 2025

2025 hat die DGPPN den Preis für Philosophie und Ethik in Psychiatrie und Psychotherapie zu gleichen Teilen verliehen an: 

  • Dr. Adrian Kind
  • Lea Nickel

Bildmaterial zur Veröffentlichung von der Preisverleihung im Rahmen des DGPPN Kongresses 2025 finden Sie in der DGPPN-Galerie 

Dr. Adrian Kind

Dr. Adrian Kind von der Charité – Universitätsmedizin Berlin

Die hervorragende Arbeit von Dr. Adrian Kind stellt für die Philosophie wie für die Psychiatrie einen spürbaren Erkenntnisfortschritt dar und erfüllt damit voll und ganz die Kriterien für die Vergabe des Preises. Thematisch setzt sie sich mit der Kritik an einem Aspekt psychotherapeutischer Behandlungen mithilfe von psychodelischen Substanzen (wie der Psycholyse) auseinander, bei der Therapieerfolge durch die Induktion von Entgrenzungszuständen wie mystischen Einheitserfahrungen angestrebt werden.

Diese Therapien werden in der Öffentlichkeit überwiegend kritisch gesehen, während die Forschung dazu – nach einer längeren Karenzzeit – seit einiger Zeit erneut zugenommen hat. Der Aspekt, der insbesondere aus philosophischer Sicht vielfach als problematisch gilt, ist die Irrationalität der Glaubensüberzeugungen, die dabei als Mittel zum Zweck in Kauf genommen werden. Die „comforting delusion“ der drogeninduzierten unio mystica mag „comforting“ sein, sie bleibt aber ein (passagerer) Wahn. Insofern schädige sie die Patienten zwar nicht in ihrer Gesundheit, aber in ihrer intellektuellen Integrität und tendenziell in ihrer Würde als rationale Subjekte. 

Die Arbeit entwickelt eine profunde, wenn auch in ihrer Reichweite begrenzte Metakritik an dieser Kritik. Sie nimmt aus der analytischen Religionsphilosophie die Unterscheidung zwischen belief und faith auf und argumentiert, dass die induzierten Zustände der Kategorie des faith zuzuordnen sind, damit mit den für beliefs geltenden kognitiven Rationalitätskriterien inkommensurabel sind.

Titel der Arbeit: "The faithful response to the comforting delusion objection"

Lea Nickel

Lea Nickel vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Göttingen der Georg-August-Universität. 

Lea Nickel argumentiert in ihrer Arbeit, dass sich psychiatrische Diagnostik wesentlich auf subjektive Aussagen von Betroffenen stützen muss und dass dadurch ein Risiko für epistemischen Ungerechtigkeit besteht. Sie greift hier das Konzept von Miranda Fricker (2007) auf, nach dem eine epistemische, also erkenntnistheoretische, Ungerechtigkeit uns alle als wissende Subjekte betrifft und unsere Fähigkeit untergraben kann, an wissensschaffenden Praktiken teilzunehmen.
Als Alternative zum herkömmlichen Vorgehen diskutiert Lea Nickel die phänomenologische Psychopathologie als eine mögliche Methode zur Verbesserung der epistemischen Ungerechtigkeit. Phänomenologische Psychopathologie wertschätzt Ich-Erfahrungen der Patientinnen und Patienten und erkennt deren Erkenntniswert an. Als wissenschaftliche Methode ist sie geeignet, epistemische Ungerechtigkeit zu verringern. Gleichzeitig muss sie selbst im Hinblick auf ihre eigenen „blinden Flecke“ hinsichtlich epistemischer Ungerechtigkeit hinterfragt und kritisch weiterentwickelt werden.

Lea Nickels Vorgehensweise ist systematisch bezüglich der Darstellung epistemischer Risiken und verbindet so Fragen nach der wissenschaftstheoretischen Validität psychiatrischer Kenntnisse und der sich daraus ergebenden ethischen Relevanzen unter Inanspruchnahme philosophischer Begrifflichkeit und Methodik. Sie ebnet somit auch den Weg zu einer gerechteren psychiatrischen Praxis, die Betroffenen wirklich zuhört.

Titel der Arbeit: "Reden ist Silber, Zuhören ist Gold. Phänomenologische Psychopathologie im Dialog mit epistemischer Ungerechtigkeit."

Über den Preis

Die Wettbewerbsbeiträge zum Preis für Philosophie und Ethik in Psychiatrie und Psychotherapie sollen zu einem Erkenntnisgewinn für Grundfragen der Psychiatrie und Psychotherapie einerseits und für die Philosophie (Medizinethik, Anthropologie und Wissenschaftstheorie), bzw. für die Geistes- und Sozialwissenschaften andererseits beitragen. Die Arbeiten sollen über systematischen Anspruch und aktuelle Relevanz verfügen. Es wird eine konzeptionelle Verbindung dieser Bereiche erwartet und eine vorrangige Verwendung von geistes- oder sozialwissenschaftlichen Methoden. Der Preis kann geteilt werden.

Die Jury

Über die Vergabe des Preises entscheidet eine Jury unter Vorsitz von Prof. Dr. med. Thomas Pollmächer (Ingolstadt):

Prof. i. R. Dr. phil. Dr. h. c. D. Birnbacher (Düsseldorf), Dr. med. I. Eckle (Zürich), 
Prof. Dr. phil. N. Erny (Darmstadt), Prof. Dr. phil. B. Heinrichs (Bonn), Prof. Dr. med. M. Heinze (Rüdersdorf), Dr. med. A. Maatz (Zürich), Prof. Dr. med. G. Marckmann (München), 
Prof. Dr. phil. A. Stephan (Osnabrück), Prof. Dr. med. Dr. phil. Henrik Walter (Berlin), 
Prof. Dr. phil. M. Wunsch (Rostock).

Preisträgerin 2024

2024 hat die DGPPN den Preis für Philosophie und Ethik in Psychiatrie und Psychotherapie an Anna Golova verliehen.

Preis für Philosophie und Ethik in Psychiatrie und Psychotherapie 2024: Anna Golova und Prof. Dr. Dr. Andreas Heinz © DGPPN | Claudia Burger

Anna Golova von der Faculty of Philosophy der University of Oxford analysiert in ihrer Dissertation „Is It Just the Depression Talking? – Autonomous and Authentic Desires in Depression“ die Autonomie und Authentizität von Suizidwünschen bei Menschen mit Depression. Sie greift in der Arbeit sowohl traditionelle Ansichten als auch rechtliche und bioethische Debatten auf. Sie kommt zu der Ansicht, dass Personen mit der Diagnose einer Depression einen echten, eigenen Suizidwunsch haben können, der eine selbstbestimmte Entscheidung zur Beendigung des eigenen Lebens begründen kann. Sie entkräftet insbesondere das Gegenargument, dass eine Depression einen Suizidwunsch auf eine Weise verursacht, die dessen Autonomie oder Authentizität untergräbt.

Titel der Arbeit: Is It Just the Depression Talking? – Autonomous and Authentic Desires in Depression

Preisträgerinnen und Preisträger bis 2023 

2023

Preis für Philosophie und Ethik in Psychiatrie und Psychotherapie 2023: Dr. Mirjam Faissner und Dr. Esther Braun © DGPPN | MH

Dr. Mirjam Faissner von der Charité – Universitätsmedizin Berlin und Dr. Esther Braun von der Ruhr-Universität Bochum haben in ihrem Artikel „The ethics of coercion in mental healthcare: the role of structural racism“ Kriterien zur ethischen Bewertung von Zwangsmaßnahmen in der psychiatrischen Versorgung untersucht. Dabei haben sie festgestellt, dass die bestehenden Kriterien unzulänglich sind, um Fälle zu bewerten, in denen Menschen mit psychischen Erkrankungen strukturellen Rassismus erfahren. Anhand eines Fallbeispiels zeigen die Wissenschaftlerinnen auf, dass die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit von Zwangsmaßnahmen durch Vorurteile verzerrt sein kann, beispielsweise weil die von Patientinnen und Patienten ausgehende Gefahr überschätzt wird. Die Forscherinnen argumentieren zudem, dass im Kontext von strukturellem Rassismus Zwangsmaßnahmen selbst dann ethisch problematisch sein können, wenn die etablierten Kriterien erfüllt sind. Ihr Fazit ist, dass eine angemessene ethische Bewertung von Zwang in der psychischen Gesundheitsversorgung auch strukturelle Diskriminierung berücksichtigen muss.

Preis für Philosophie und Ethik in Psychiatrie und Psychotherapie 2023: Christin Hempeler und Dr. Esther Braun © DGPPN | MH

Christin Hempeler, Dr. Esther Braun, Dr. Sarah Potthoff, Dr. Jakov Gather und Dr. Matthé Scholten von der Ruhr-Universität Bochum haben in ihrer Arbeit „When treatment pressures become coercive: A context-sensitive model of informal coercion in mental healthcare“ kommunikative Strategien untersucht, die Fachkräfte in der psychosozialen Gesundheitsversorgung nutzen, um Patientinnen und Patienten dazu zu bewegen, Behandlungsempfehlungen zu befolgen. Vom Überreden über Angebote bis hin zu Drohungen: Das Spektrum informellen Zwangs in der psychiatrischen Versorgung ist weitreichend. Die Autorinnen und Autoren zeigen in ihrer philosophischen Analyse, dass eine kommunikative Strategie dann als Zwang betrachtet wird, wenn Patientinnen und Patienten gerechtfertigterweise annehmen, dass sie schlechter gestellt werden, wenn sie einen Behandlungsvorschlag ablehnen. Wie gerechtfertigt diese Annahme ist, hängt unter anderem davon ab, ob eine Abhängigkeit von Fachleuten besteht oder die Anwendung von rechtlich geregeltem Zwang im Raum steht.


2022


Pablo Hubacher Haerle
Pembroke College, University of Cambridge 
„Is OCD Epistemically Irrational?“ 

Ricarda Münch
Prof. Dr. Dr. Henrik Walter
PD Dr. Sabine Müller
Charité – Universitätsmedizin Berlin 
„Should Behavior Harmful to Others Be a Sufficient Criterion of Mental Disorders? Conceptual Problems of the Diagnoses of Antisocial Personality Disorder and Pedophilic Disorder”


2021


Dr. Sanja Dembić
Human Abilities, Centre for Advanced Studies in the Humanities
„Defining Addictive Disorder – Abilities Reconsidered“


Bis 2020 hat die DGPPN den Preis für Philosophie und Ethik in Psychiatrie und Psychotherapie in Verbindung mit der Stiftung für Seelische Gesundheit verliehen.


2020


Dr. Matthé Scholten
Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin, Ruhr-Universität Bochum 
„Equality in the informed consent process: Competence to consent, substitute decision-making, and discrimination of persons with mental disorders“ (M. Scholten, J. Gather & J. Vollmann)


2019


Dr. Timo Beeker
Medizinische Hochschule Brandenburg
Dr. Samuel Thoma
Sozialpsychiatrische Informationen
„Die digitale Psychiatrie zwischen User_innen-Empowerment und Psychiatrisierung"

PD Dr. Sabine Müller
Charité – Universitätsmedizin Berlin
„Moral Enhancement durch Neurochirurgie? Machbarkeit und ethische Vertretbarkeit"


2018


Dr. Samuel Thoma
Immanuel Klinik Rüdersdorf
Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs
Universitätsklinikum Heidelberg
„Inhabiting the shared world. Phenomenological considerations on sensus communis, social space and schizophrenia"

Dr. Anke Büter
Leibniz Universität Hannover, Institut für Philosophie
„Epistemic Injustice and Psychiatric Classification"


2017


Prof. Dr. phil. Dietmar Hübner
Dr. phil. Lucie White
Leibniz Universität Hannover – Institut für Philosophie
„Neurosurgery for Psychopaths? An Ethical Analysis“

Dr. med. Markus R. Pawelzik
EOS-Klinik für Psychotherapie Münster
„Gibt es psychische Störungen?“

Isabella Marcinski
Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin
„Phänomenologische Perspektiven in der Philosophie der Psychiatrie: Essstörungen und die Thematisierung von Sozialität“


2016


Dr. phil. Karsten Witt
Universität Duisburg-Essen, Fakultät für Geisteswissenschaften – Institut für Philosophie
„Identity change and informed consent"

Dr. phil. Markus Rüther
Forschungszentrum Jülich GmbH, Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM)
„Zwischen ethischer Neutralität und Dehumanisierung - Einige Überlegungen zu den praktischen Konsequenzen der biologischen Psychiatrie"


2015


Der Preis für Philosophie und Ethik in Psychiatrie und Psychotherapie wurde nicht verliehen.


2014


Dr. Patrice Soom
Prof. Dr. Gottfried Vosgerau
Institut für Philosophie, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
„A Functionalist Approach to the Concept of ‘Delusion’“


Bis 2013 wurde der Preis als Förderpreis für Philosophie in der Psychiatrie verliehen.

2013


Dr. med. Swantje Notzon
Münster


2012


Dr. phil. Kerrin Jacobs
Osnabrück


2011


cand. med. Ursula Spitzer
Witten-Herdecke


2010


Dr. med. Martin Voss
Dr. Gottfried Vosgerau
Berlin, Düsseldorf

Dr. Lara Rzesnitzek
Berlin


2009


Der Preis für Philosophie in der Psychiatrie wurde nicht verliehen.


2008


Christian Kupke
Berlin


2007


Prof. em. Dr. Kurt Lüscher
Konstanz

Prof. Dr. Gereon Heuft
Münster


2006


Prof. Dr. Thomas Metzinger
Mainz


2005


Prof. Dr. Dr. Kai Vogeley
Köln

Prof. Dr. Albert Newen
Tübingen

PD Dr. Jann Schlimme
Hannover