Das psychiatrische Hilfesystem in Deutschland basiert auf einem komplexen Zusammenspiel ambulanter, teilstationärer, stationärer und komplementärer Angebote. Angesichts der steigenden Inanspruchnahme medizinischer Leistungen aufgrund von psychischen Erkrankungen steigt der Druck auf die Leistungserbringer. Um die Qualität der Versorgung auch in Zukunft sichern zu können, sollte verstärkt in innovative sektorenübergreifende Versorgungsmodelle investiert werden.
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Innerhalb eines Jahres leidet bundesweit jeder vierte Mensch an einer psychischen Erkrankung. Zu den häufigsten gehören Angststörungen, Depressionen sowie Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit. Studien zeigen, dass die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen steigt, trotzdem befindet sich nur jede Fünfte mit einer psychiatrischen Diagnose in professioneller Behandlung. Für die kommenden Jahre ist ein weiterer Anstieg des Hilfebedarfs zu erwarten. Damit steigen auch die Anforderungen an das Versorgungssystem.
Das psychiatrische Hilfesystem basiert auf einem komplexen Zusammenspiel ambulanter, teilstationärer, stationärer und komplementärer Angebote. Viele verschiedene Berufsgruppen arbeiten Hand in Hand: Psychiater, Psychotherapeuten, Pflegefachleute, Sozialarbeiter und Spezialtherapeuten. Die meisten Menschen mit psychischen Erkrankungen werden ambulant behandelt, dabei ist vielfach der Hausarzt erster Ansprechpartner für die Betroffenen. Die Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz bei einem Facharzt, ärztlichen oder psychologischen Psychotherapeuten können Wochen bis Monate betragen. Dabei gibt es deutliche Unterschiede zwischen den Bundesländern und zwischen ländlichen und städtischen Regionen.
Die stationäre Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen gewährleistet eine Vielzahl von Fachkliniken und Fachabteilungen an Allgemeinkrankenhäusern, darunter zahlreiche Universitätskliniken. Daneben existieren auch zahlreiche Kliniken für Psychosomatik, die ebenfalls an der stationären Versorgung beteiligt sind. In den vergangenen Jahrzehnten ist es zu einer enormen Leistungsverdichtung gekommen. Klinikbetten und Verweildauern wurden massiv reduziert, während die Behandlungsfälle vollstationärer Patienten stark zugenommen haben. Hinzu kommt, dass die Angebote über die Sektorengrenzen hinweg noch nicht optimal koordiniert sind – was gerade Patienten mit wenig eigenen Ressourcen vor weitere Probleme stellt.
Vor allem bei der langfristigen Versorgung von Betroffenen mit chronischen Krankheitsverläufen und dem Bemühen um ihre chancengleiche Teilhabe an allen Bereichen des Lebens bestehen Potenziale zur Verbesserung. Dies macht es erforderlich, sich über innovative Versorgungsmodelle auszutauschen, um die Qualität der Versorgung auch in Zukunft sichern zu können.
Das Gesundheitssystem muss dringend auf diese Herausforderungen reagieren: Menschen mit psychischen Erkrankungen benötigen neue gestufte, bedarfsgerechte, personenzentrierte, sektoren- und settingübergreifende Versorgungsmodelle, die ihren spezifischen Bedürfnissen gerecht werden. Dabei stellt sich auch die Frage, wie die Empfehlungen der evidenzbasierten Leitlinien im Behandlungsalltag noch umfänglicher umsetzbar sind und wie sich die neuesten Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung in die Praxis übersetzen lassen.
Die steigende Anzahl an Demenzerkrankten wird eine der größten Herausforderungen für unsere Gesellschaft. Mit der Nationalen Demenzstrategie hat sich die DGPPN gemeinsam mit vielen anderen Akteuren das Ziel gesetzt, die Lebenssituation der Betroffenen und ihrer Angehörigen nachhaltig zu verbessern.
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Eine Vielzahl an Verbänden und Fachgesellschaften hat an einem Alternativmodell zur G-BA-Richtlinie gearbeitet. Erste Ergebnisse wurden Anfang 2019 in der Fachzeitschrift „Der Nervenarzt“ veröffentlicht. Ausgangspunkt für die Berechnung der Personalausstattung sind die Bedarfe aller in der Einrichtung behandelten Patienten. Der Behandlungsbedarf hat drei Dimensionen: (a) psychiatrisch-psychotherapeutischen/psychosomatisch psychotherapeutischen/kinder- und jugendpsychiatrischen-psychotherapeutischen, (b) somatischen und (c) psychosozialen Bedarf.
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Kriterien zur vergleichenden Beurteilung innovativer Versorgungsformen
Die aktuelle psychiatrische Versorgungssituation ist geprägt von Fragmentierung und Be-handlungslücken. Es existieren mittlerweile zahlreiche Modellprojekte, die geeignet sind hier Abhilfe zu schaffen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach Kriterien, die geeignet sind, innovative Versorgungsformen zu vergleichen und bewährte Elemente heraus zu arbeiten. Unter anderem ist dabei von Interesse, wie innovative Projekte identifiziert und unterstützt werden können, welche Möglichkeiten und Grenzen den einzelnen Projekten innewohnen oder was der Anspruch von innovativen Projekten für die Weiterentwicklung der Versorgung ist.
Eine eigens zum Thema eingerichtete Task-Force der DGPPN hat anhand von „Best-Practice-Modellen“ eine Kriterienübersicht entwickelt. Dabei wurden Struktur- und Erfolgskriterien unterschieden. Zusätzlich wurde ein Bewertungskriterium eingefügt, mit dem Besonderheiten des Projekts bzw. die Kernelemente der Innovation beschrieben werden sollten.
Es wurde deutlich, dass u. a. systembedingte Entwicklungen (Aufbau von stationären Strukturen vs. innovative, gemeindenahe Projekte) den Aufbau von Modellprojekten erschweren. Die kurzfristige, zumeist ökonomische Sichtweise der Krankenkassen behindert in manchen Fällen eine Verstetigung von Modellprojekten. Hinzu kommt, dass die Evaluation und damit der Wirksamkeitsnachweis vieler Projekte oftmals noch ausstehen. Darüber hinaus erschweren widerstrebende Partikularinteressen die Zusammenarbeit der beteiligten Akteure.
Die vorliegende Übersicht bietet erste Anhaltspunkte, wie sich innovative Versorgungsprojekte beurteilen lassen. In einem nächsten Schritt könnten weitere Kriterien wie z. B. Multiprofessionalität (wer behandelt in den Versorgungsformen?), Evidenzbasierung der Behandlung, Dauer bis zum Behandlungsbeginn, Behandlungskontinuität, Nachsorge, Angehörigeneinbezug, Aspekte der Beziehungsgestaltung oder eine Recovery-Orientierung einbezogen werden.