27.08.2025 | stellungnahme

Primärarztsystem: Psychische Erkrankungen erfordern flexible Regelungen

Die DGPPN unterstützt grundsätzlich die Einführung eines Primärarztsystems zur besseren Steuerung, Koordination und Effizienz im deutschen Gesundheitssystem. Allerdings stellen psychische Erkrankungen besondere Anforderungen an die Versorgung. Ein verpflichtender primärärztlicher Erstkontakt kann gerade für Personen mit Sorge vor Stigmatisierung eine zusätzliche Hürde darstellen. Der Erhalt des Direktzugangs zur Psychotherapie greift hier zu kurz. Der Direktzugang zu den Fachärztinnen und Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie, für Nervenheilkunde, für Neurologie und Psychiatrie sowie für Psychiatrie muss ebenfalls sichergestellt sein.

Das deutsche Gesundheitssystem steht vor erheblichen strukturellen Herausforderungen: Der demografische Wandel, die steigende Lebenserwartung, der zunehmende Fachkräftemangel und eine wachsende Inanspruchnahme medizinischer Leistungen verlangen nach nachhaltigen Reformen. Vor diesem Hintergrund begrüßt die DGPPN ausdrücklich die Überlegungen zur Einführung eines Primärarztsystems als ein Instrument zur Verbesserung von Versorgungskoordination, -effizienz und -gerechtigkeit. Die DGPPN unterstützt das Ziel einer intelligenten Steuerung des Zugangs zu medizinischen Leistungen, wie es von der Bundesregierung im Koalitionsvertrag festgehalten wurde und unter anderem im Konzeptpapier Koordination und Orientierung in der Versorgung der Bundesärztekammer (BÄK) formuliert ist.

Psychische Gesundheit als besonderer Versorgungsbereich

Gleichzeitig weist die DGPPN mit Nachdruck darauf hin, dass psychische Erkrankungen einer besonderen Versorgungssituation bedürfen. Die Inanspruchnahme psychischer Gesundheitsleistungen unterscheidet sich von anderen Bereichen – nicht zuletzt aufgrund der noch immer bestehenden oder manchmal auch nur befürchteten - gesellschaftlichen Stigmatisierung, die vielen Betroffenen den Zugang zur Behandlung erschwert.

Der Hausarzt ist in vielen Fällen bei psychischen Beschwerden eine erste Anlaufstelle und spielt eine wichtige Rolle: Er kann selbst Hilfe anbieten und, wenn dies nicht reicht, die Patienten weitervermitteln. Wenn Patientinnen und Patienten allerdings Scham für ihre Probleme/Beschwerden empfinden und noch kein gewachsenes Vertrauensverhältnis oder auch kein regelmäßiger Kontakt zu einem Hausarzt besteht, dann kann der verpflichtende Weg über einen Primärarzt eine zusätzliche Zugangshürde darstellen. Dies kann dazu führen, dass Hilfe sehr spät oder gar nicht in Anspruch genommen wird.

Es ist deshalb grundsätzlich positiv zu bewerten, dass die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) in ihrem Konzeptpapier Ambulant passgenau versorgt für die psychotherapeutische Versorgung eine Ausnahme vom Primärarztsystem vorsieht; der Vorschlag greift aus Sicht der DGPPN aber deutlich zu kurz. 

Psychotherapie allein ist nicht immer ausreichend

Denn Psychotherapie ist ein wichtiger, aber nicht alleiniger Bestandteil der Behandlung psychischer Erkrankungen. Eine differenzierte Diagnostik und Behandlungsplanung muss dem bio-psycho-sozialen Modell folgen – also biologische, biographische, psychische und soziale Aspekte gleichermaßen berücksichtigen. Die Entscheidung über die geeignete Behandlungsform (z. B. Psychotherapie, medikamentöse Behandlung, sozialpsychiatrische Maßnahmen) setzt eine fachlich fundierte Einschätzung voraus, die häufig nur durch psychiatrisch qualifizierte Fachärztinnen und Fachärzte geleistet werden kann.

Würde einzig die Psychotherapie vom Primärarztmodell ausgenommen und die Personen mit psychischen Beschwerden lediglich über die sogenannte psychotherapeutische Sprechstunde gesteuert, könnte dies bestehende Fehlsteuerungen im Versorgungssystem verstärken, statt sie zu verbessern: Menschen mit leichteren psychischen Erkrankungen würden einfacher Zugang erhalten, während Betroffene mit schweren und komplexen Krankheitsbildern strukturell benachteiligt würden. Dies ist nicht nur ineffizient, sondern auch versorgungsethisch bedenklich. 

Direktzugang auch zu Fachärztinnen und Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie

Vor diesem Hintergrund fordert die DGPPN, dass der Direktzugang nicht nur zu psychotherapeutischen, sondern auch zu psychiatrischen Leistungen gewährleistet bleiben muss. Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie und weitere Fachärztinnen und Fachärzte mit psychiatrischer Qualifizierung sind für Menschen mit psychischen Erkrankungen zentrale Behandelnde. Sie unter Primärarztvorbehalt zu stellen, den Direktzugang zur Psychotherapie aber zu erhalten, ist in Anbetracht der Versorgungsrealität nicht nachvollziehbar.

Insbesondere Menschen mit schweren, chronischen und komplexen psychischen Erkrankungen benötigen eine kontinuierliche Versorgung und engmaschige Betreuung. In solchen Fällen sollten Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, für Nervenheilkunde, für Neurologie und Psychiatrie sowie für Psychiatrie auch gemeinsam mit den Hausärzten, in primärärztlicher Funktion, die individuelle Versorgung koordinieren dürfen.

Ein modernes, zukunftsfähiges Gesundheitssystem braucht einen flexiblen und niedrigschwelligen Zugang zur Hilfe bei psychischen Erkrankungen – im Sinne der Patientinnen und Patienten und der psychischen Gesundheit der Bevölkerung.

Links und Download

DGPPN: Primärarztsystem: Psychische Erkrankungen erfordern flexible Regelungen [PDF] | DGPPN-Stellungnahme | 27. August 2025

Bundesärztekammer: Die primärärztliche Versorgung zum Normalfall machen | 30. April 2025

Kassenärztliche Bundesvereinigung: Patientensteuerung in der Notfall-, Akut- und Regelversorgung - Positionen und Vorschläge | 26. Mai 2025