24.11.2020 | Policy Brief

COVID-19-Impfstrategie

Warum Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen zur Risikogruppe gehören

Das Wichtigste auf einen Blick
  • Angesichts steigender Infektionszahlen entwickelt die Politik derzeit eine Impf-strategie.
  • Konsens besteht darin, dass diejenigen Personengruppen zuerst von einer Imp-fung profitieren sollten, die aufgrund ihres Alters oder Gesundheitszustandes ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf haben.
  • Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen infizieren sich deutlich häufi-ger mit COVID-19, zeigen einen schwereren Verlauf und haben ein höheres Ster-berisiko als die Allgemeinbevölkerung.
  • Deshalb sollten Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen offiziell als Risikogruppe anerkannt und bei der Impfstrategie berücksichtigt werden.
     
Hintergrund

Angesichts steigender Infektionszahlen entwickelt die Politik derzeit eine Impfstrategie. Da-mit soll gewährleistet werden, dass der für 2021 erwartete und anfangs zu rationierende Impfstoff zunächst derjenigen Personengruppe zugutekommt, welche einen Impfschutz be-sonders nötig hat. Das Bundesgesundheitsministerium hat die Ständige Impfkommission ge-meinsam mit der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und dem Deutschen Ethikrat gebeten, auf Basis von medizinischen, ethischen und rechtlichen Aspekten eine Ein-schätzung abzugeben. Das gemeinsame Positionspapier definiert als zu priorisierende Per-sonengruppe Menschen, die „aufgrund ihres Alters oder vorbelasteten Gesundheitszustandes ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf haben […]“ [1].

Fragestellung
Welche Personen sind zur gesundheitlich vorbelasteten Risikogruppe zu zählen? 

Das sagt die Wissenschaft

Ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf bei CO-VID-19 wird in der Regel Menschen aller Altersgruppen mit komorbiden und körperlichen Grunderkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronisch obstruktive Lungenerkran-kungen, Diabetes mellitus Typ 2, chronischen Nierenleiden, Fettleibigkeit, Immunschwäche und Krebs attestiert [2].

Jedoch zeigen auch Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen (severe mental ill-ness – SMI) einen schwereren Verlauf und haben ein höheres Sterberisiko, sie infizieren sich zudem deutlich häufiger mit COVID-19 als die Allgemeinbevölkerung [3–5]. Es handelt sich dabei um Menschen, die z. B. von Schizophrenie, schweren Depressionen und bipolarer Stö-rungen betroffen sind, seit längerer Zeit behandelt werden und unter erheblichen psychoso-zialen Beeinträchtigungen leiden. Davon betroffen sind etwa 1–2 % der Bevölkerung [6].
Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen sind in besonderem Maße Umweltfakto-ren ausgesetzt, welche als Risikofaktoren für COVID-19-Infektionen gelten (z. B. niedriger sozioökonomischer Status, unsichere Arbeitsbedingungen, Wohnungslosigkeit, Institutionali-sierung und Unterbringung) [7–13]. 

Oftmals werden somatische Erkrankungen und Risikofaktoren aufgrund von Stigmatisierung, Diskriminierung und Unwissen bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen schlechter erkannt und später behandelt [14].

Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen haben außerdem mehr Schwierigkeiten bei der Befolgung und Umsetzung der komplexen und sich ständig ändernden Regeln und Verpflichtungen zur Eindämmung des Corona-Virus [3, 15]. 

Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen haben auch ohne Berücksichtigung von COVID-19 eine zwei- bis dreifach höhere allgemeine Sterblichkeitsrate bzw. eine um 10-20 Jahre reduzierte Lebenserwartung im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung [16].  Dies liegt u. a. an somatischen Folgeerkrankungen, welche wiederum Risikofaktoren bei einer COVID-19-Erkrankung sind [17].

Empfehlung
Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen sollten offiziell als Risikogruppe anerkannt und bei der Impfstrategie berücksichtigt werden [18].

 

Quellen:

  1. Ständige Impfkommission (STIKO) beim Robert Koch-Institut, Deutscher Ethikrat, Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (2020) Wie soll der Zugang zu einem COVID-19-Impfstoff geregelt werden? https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/gemeinsames-positionspapier-stiko-der-leopoldina-impfstoffpriorisierung.pdf
  2. Committee on Equitable Allocation of Vaccine for the Novel Coronavirus, Board on Health Sciences Policy, Board on Popula-tion Health and Public Health Practice et al (2020) Framework for Equitable Allocation of COVID-19 Vaccine. 25917. https://doi.org/10.17226/25917
  3. Wang Q, Xu R, Volkow ND (2020) Increased risk of COVID ‐19 infection and mortality in people with mental disorders: analysis from electronic health records in the United States. World Psychiatry wps.20806. https://doi.org/10.1002/wps.20806
  4. Li L, Li F, Fortunati F, Krystal JH (2020) Association of a Prior Psychiatric Diagnosis With Mortality Among Hospitalized Patients With Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) Infection. JAMA Netw Open 3:e2023282. https://doi.org/10.1001/jamanetworkopen.2020.23282
  5. Lee SW, Yang JM, Moon SY et al (2020) Association between mental illness and COVID-19 susceptibility and clinical outcomes in South Korea: a nationwide cohort study. Lancet Psychiatry S2215036620304211. https://doi.org/10.1016/S2215-0366(20)30421-
  6. Gühne U, Becker T, Salize H-J, Riedel-Heller S (2015) Wie viele Menschen in Deutschland sind schwer psychisch krank? Psychi-atr Prax 42:415–423. https://doi.org/10.1055/s-0035-1552715
  7. Daum M, Höptner A, Speck A, Steinhart I (2017) Teilhabe für chronisch psychisch kranke Menschen in Deutschland oder Die Sozialpsychiatrie und die Soziale Gerechtigkeit. Psychiatr Prax 44:108–110. https://doi.org/10.1055/s-0043-100274
  8. Gardner A, Cotton S, O’Donoghue B et al (2019) Group differences in social inclusion between young adults aged 18 to 25 with serious mental illness and same-aged peers from the general community. Int J Soc Psychiatry 65:631–642. https://doi.org/10.1177/0020764019868749
  9. Hakulinen C, Elovainio M, Arffman M et al (2020) Employment Status and Personal Income Before and After Onset of a Severe Mental Disorder: A Case-Control Study. Psychiatr Serv 71:250–255. https://doi.org/10.1176/appi.ps.201900239
  10. Jäckel D, Siebert S, Baumgardt J et al (2020) Arbeitsbezogene Teilhabebeeinträchtigungen und Unterstützungsbedarf von Patienten in der (teil-)stationären psychiatrischen Versorgung. Psychiatr Prax 47:235–241. https://doi.org/10.1055/a-1112-5519
  11. Salize HJ, Dillmann-Lange C, Kentner-Figura B, Reinhard I (2006) Drohende Wohnungslosigkeit und psychische Gefährdung: Prävalenz und Einflussfaktoren bei Risikopopulationen. Nervenarzt 77:1345–1354. https://doi.org/10.1007/s00115-005-1997-3
  12. Schreiter S, Gutwinski S, Rössler W (2020) Wohnungslosigkeit und seelische Erkrankungen. Nervenarzt 91:1025–1031. https://doi.org/10.1007/s00115-020-00986-x
  13. Adorjan K, Steinert T, Flammer E et al (2017) Zwangsmaßnahmen in deutschen Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie. Nervenarzt 88:802–810. https://doi.org/10.1007/s00115-016-0261-3
  14. De Hert M, Cohen D, Bobes J et al (2011) Physical illness in patients with severe mental disorders. II. Barriers to care, moni-toring and treatment guidelines, plus recommendations at the system and individual level. World Psychiatry 10:138–151. https://doi.org/10.1002/j.2051-5545.2011.tb00036.x
  15. Shinn AK, Viron M (2020) Perspectives on the COVID-19 Pandemic and Individuals With Serious Mental Illness. J Clin Psychia-try. doi: 10.4088/JCP.20com13412
  16. Schneider F, Erhart M, Hewer W et al (2019) Mortality and medical comorbidity in the severely mentally ill—a German registry study. Dtsch Aerzteblatt Online. doi: 10.3238/arztebl.2019.0405
  17. De Hert M, Correll CU, Bobes J et al (2011) Physical illness in patients with severe mental disorders. I. Prevalence, impact of medications and disparities in health care. World Psychiatry 10:52–77. https://doi.org/10.1002/j.2051-5545.2011.tb00014.x
  18. De Hert M, Mazereel V, Detraux J, Van Assche K (2020) Prioritizing COVID ‐19 vaccination for people with severe mental illness. World Psychiatry wps.20826. https://doi.org/10.1002/wps.20826

 

 

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