Warum Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen zur Risikogruppe gehören
Das Wichtigste auf einen Blick
- Angesichts steigender Infektionszahlen entwickelt die Politik derzeit eine Impf-strategie.
- Konsens besteht darin, dass diejenigen Personengruppen zuerst von einer Imp-fung profitieren sollten, die aufgrund ihres Alters oder Gesundheitszustandes ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf haben.
- Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen infizieren sich deutlich häufi-ger mit COVID-19, zeigen einen schwereren Verlauf und haben ein höheres Ster-berisiko als die Allgemeinbevölkerung.
- Deshalb sollten Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen offiziell als Risikogruppe anerkannt und bei der Impfstrategie berücksichtigt werden.
Hintergrund
Angesichts steigender Infektionszahlen entwickelt die Politik derzeit eine Impfstrategie. Da-mit soll gewährleistet werden, dass der für 2021 erwartete und anfangs zu rationierende Impfstoff zunächst derjenigen Personengruppe zugutekommt, welche einen Impfschutz be-sonders nötig hat. Das Bundesgesundheitsministerium hat die Ständige Impfkommission ge-meinsam mit der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und dem Deutschen Ethikrat gebeten, auf Basis von medizinischen, ethischen und rechtlichen Aspekten eine Ein-schätzung abzugeben. Das gemeinsame Positionspapier definiert als zu priorisierende Per-sonengruppe Menschen, die „aufgrund ihres Alters oder vorbelasteten Gesundheitszustandes ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf haben […]“ [1].
Fragestellung
Welche Personen sind zur gesundheitlich vorbelasteten Risikogruppe zu zählen?
Das sagt die Wissenschaft
Ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf bei CO-VID-19 wird in der Regel Menschen aller Altersgruppen mit komorbiden und körperlichen Grunderkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, chronisch obstruktive Lungenerkran-kungen, Diabetes mellitus Typ 2, chronischen Nierenleiden, Fettleibigkeit, Immunschwäche und Krebs attestiert [2].
Jedoch zeigen auch Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen (severe mental ill-ness – SMI) einen schwereren Verlauf und haben ein höheres Sterberisiko, sie infizieren sich zudem deutlich häufiger mit COVID-19 als die Allgemeinbevölkerung [3–5]. Es handelt sich dabei um Menschen, die z. B. von Schizophrenie, schweren Depressionen und bipolarer Stö-rungen betroffen sind, seit längerer Zeit behandelt werden und unter erheblichen psychoso-zialen Beeinträchtigungen leiden. Davon betroffen sind etwa 1–2 % der Bevölkerung [6].
Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen sind in besonderem Maße Umweltfakto-ren ausgesetzt, welche als Risikofaktoren für COVID-19-Infektionen gelten (z. B. niedriger sozioökonomischer Status, unsichere Arbeitsbedingungen, Wohnungslosigkeit, Institutionali-sierung und Unterbringung) [7–13].
Oftmals werden somatische Erkrankungen und Risikofaktoren aufgrund von Stigmatisierung, Diskriminierung und Unwissen bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen schlechter erkannt und später behandelt [14].
Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen haben außerdem mehr Schwierigkeiten bei der Befolgung und Umsetzung der komplexen und sich ständig ändernden Regeln und Verpflichtungen zur Eindämmung des Corona-Virus [3, 15].
Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen haben auch ohne Berücksichtigung von COVID-19 eine zwei- bis dreifach höhere allgemeine Sterblichkeitsrate bzw. eine um 10-20 Jahre reduzierte Lebenserwartung im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung [16]. Dies liegt u. a. an somatischen Folgeerkrankungen, welche wiederum Risikofaktoren bei einer COVID-19-Erkrankung sind [17].
Empfehlung
Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen sollten offiziell als Risikogruppe anerkannt und bei der Impfstrategie berücksichtigt werden [18].
Quellen:
- Ständige Impfkommission (STIKO) beim Robert Koch-Institut, Deutscher Ethikrat, Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina (2020) Wie soll der Zugang zu einem COVID-19-Impfstoff geregelt werden? https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/gemeinsames-positionspapier-stiko-der-leopoldina-impfstoffpriorisierung.pdf
- Committee on Equitable Allocation of Vaccine for the Novel Coronavirus, Board on Health Sciences Policy, Board on Popula-tion Health and Public Health Practice et al (2020) Framework for Equitable Allocation of COVID-19 Vaccine. 25917. https://doi.org/10.17226/25917
- Wang Q, Xu R, Volkow ND (2020) Increased risk of COVID ‐19 infection and mortality in people with mental disorders: analysis from electronic health records in the United States. World Psychiatry wps.20806. https://doi.org/10.1002/wps.20806
- Li L, Li F, Fortunati F, Krystal JH (2020) Association of a Prior Psychiatric Diagnosis With Mortality Among Hospitalized Patients With Coronavirus Disease 2019 (COVID-19) Infection. JAMA Netw Open 3:e2023282. https://doi.org/10.1001/jamanetworkopen.2020.23282
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