04.07.2022 | Stellungnahme

Indikationen zur Elektrokonvulsionstherapie

Die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) ist ein wirksames und sicheres medizinisches Behandlungsverfahren für schwere psychische Erkrankungen. Hinsichtlich der Anwendungsbereiche, Risiken und Nebenwirkungen der EKT besteht in der Fachwelt häufig noch Informationsbedarf. Die deutschsprachigen psychiatrischen Fachgesellschaften fassen deswegen den neuesten wissenschaftlichen Kenntnisstand zusammen.

Executive Summary

Diese Stellungnahme soll den aktuellen Kenntnisstand zur EKT vermitteln und damit auch in klinisch schwierigen Fällen eine Indikationsstellung unter Nutzen-Risiko-Abwägung erleichtern. Konkret werden dabei die folgenden Aspekte bearbeitet:

  • Indikationen: Die EKT kann bei vielen psychischen Erkrankungen sowohl in der Akuttherapie als auch zur Rezidivprophylaxe mittels Erhaltungs-EKT zum Einsatz kommen. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass sich in der klinischen Praxis zunehmend eine syndromale Indikationsstellung bewährt.
  • Sicherheit: Die EKT gehört zu den sichersten Behandlungsverfahren in Narkose überhaupt und es ist vielfach belegt, dass es nicht zu strukturellen oder indirekt nachweisbaren Hirnschäden kommt. Forschungsergebnisse der letzten Jahre konnten sogar einen Zuwachs an grauer Substanz unter der Behandlung nachweisen.
  • Nebenwirkungen: Vorübergehende kognitive Störungen sind die relevanteste Nebenwirkung der EKT. Diese sind meist mild bis moderat ausgeprägt und bilden sich i. d. R. innerhalb von Tagen bis wenigen Wochen vollständig zurück.
  • Wirkmechanismus: Nachgewiesene Effekte der EKT zeigen sich vor allem in den Bereichen Neuroplastizität, Inflammation und funktionelle Konnektivität.

Seit den Stellungnahmen zur Elektrokonvulsionstherapie (EKT) der Bundesärztekammer (BÄK) [1] sowie der psychiatrischen Fachgesellschaften von Deutschland, der Schweiz, Österreich und Südtirol [2] sind eine bzw. fast zwei Dekaden vergangen, in denen sich relevante neue wissenschaftliche Erkenntnisse in Bezug auf die Indikationen zur EKT ergeben haben. So liegen heute evidenzbasierte Empfehlungen für den Einsatz der EKT in den S3-Leitlinien „Unipolare Depression“, „Schizophrenie“ und „Diagnostik und Therapie Bipolarer Störungen“ [3-5] vor und es erfolgten die Aufnahme der EKT als Handlungskompetenz in die deutsche und österreichische Musterweiterbildungsordnung, sowie die Kalkulation spezifischer Zusatzentgelte im Rahmen des pauschalierenden Entgeltsystems Psychiatrie und Psychosomatik. Während dieses Zeitraums haben sich die Behandlungszahlen mit EKT in Deutschland etwa verdoppelt [6], was jedoch nur teilweise zu einer verbesserten Versorgung von Menschen mit schweren psychiatrischen Störungen mit diesem Behandlungsverfahren geführt hat. So liegen die deutschsprachigen Länder in der Versorgung mit EKT im internationalen Vergleich gegenüber den meisten anderen Industrienationen noch zurück. Nur etwa die Hälfte der psychiatrischen Kliniken in Deutschland bietet das Therapieverfahren an, wenngleich mit steigender Tendenz. Spezifische Patientengruppen wie Kinder und Jugendliche, Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung, sowie Patienten des Maßregelvollzugs haben zudem aus strukturellen Gründen teilweise erschwerten Zugang zu dieser Therapieform. Dieser Umstand wurde mehrfach als ethisch nicht vertretbare Einschränkung des Rechtes auf bestmögliche Behandlung beschrieben [1, 7].

Diese Stellungnahme soll daher den heutigen Kenntnisstand über Indikationen zur EKT vermitteln und damit auch in klinisch schwierigen Fällen eine Indikationsstellung unter Nutzen-Risiko-Aspekten erleichtern. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass sich in der klinischen Praxis zunehmend eine syndromale Indikationsstellung bewährt. D. h., ob eine EKT erfolgsversprechend ist, lässt sich nicht allein von einer bestimmten Diagnose, sondern vielmehr von dem spezifischen Beschwerdebild eines individuellen Patienten ableiten. Affektive, psychotische und katatone Syndrome zum Beispiel sprechen relativ unabhängig von der ätiologischen Zuordnung auf eine EKT an.

 

1. Indikationen zur EKT

Die allgemeinen, durch die BÄK 2003 dargelegten Behandlungs-Prinzipien gelten unverändert: So ist die EKT grundsätzlich dann indiziert, wenn

  • eine Notwendigkeit für eine schnelle Verbesserung aufgrund der Schwere der psychiatrischen Erkrankung besteht,
  • die Risiken der EKT geringer sind als die anderer Behandlungen,
  • aus der Vorgeschichte ein schlechtes Ansprechen auf einschlägige Psychopharmaka (Therapieresistenz) oder ein gutes Ansprechen auf EKT bei früheren Erkrankungsepisoden bekannt ist,
  • Unverträglichkeit oder erhebliche Nebenwirkungen der Pharmakotherapie aufgetreten sind [1, 8].

EKT wird im Rahmen eines Behandlungsplans zusammen mit einer entsprechenden Pharmako- und Psychotherapie durchgeführt. In einigen, manchmal lebensbedrohlichen Fällen kann jedoch auch eine alleinige EKT erst die Voraussetzungen schaffen, Patienten wieder in ein komplexeres Behandlungskonzept integrieren zu können. Ob die EKT als primäre Therapie oder erst nach Versagen anderer Optionen angeboten wird, hängt weniger von der Diagnose als von der Akuität und Schwere der jeweiligen Störung, sowie den im individuellen Krankheitsverlauf drohenden Risiken ab. EKT ist keine ultima ratio [2]. Vielmehr reduziert ein früher Einsatz im Behandlungsverlauf Leiden, Krankheitsdauer sowie das Risiko einer Chronifizierung und die Erfolgschancen der EKT steigen [9].

Für bestimmte Diagnosen wie unipolare Depression oder Schizophrenie existieren als Wirksamkeitsnachweise randomisierte, kontrollierte Studien sowie darauf basierende Metaanalysen als höchste Stufe wissenschaftlicher Evidenz, die zu entsprechenden Empfehlungen in nationalen und internationalen Leitlinien geführt haben. Jedoch greift die alleinige Betrachtung meta-analytischer Evidenzgrade für die Indikationsstellung zur EKT zu kurz [10], da für einige, besonders schwer erkrankte Patientengruppen randomisiert-kontrollierte Studien aus medizinischen bzw. ethischen Gründen nicht durchführbar sind. Hier muss und soll die klinische Erfahrung (also Empirie, z. B. basierend auf Fallserien, Fall-Kontrollstudien, etc.) Evidenzlücken füllen, um Patienten eine potentiell hochwirksame und bisweilen lebensrettende Therapie nicht vorzuenthalten.

Es gibt verschiedene syndromale Indikationen zur EKT. Da sich auch innerhalb ein und derselben syndromalen Indikation (z. B. depressives Syndrom) die Ansprechraten in Abhängigkeit vom Vorliegen bestimmter klinischer Faktoren (z. B. Alter, Chronizität, Akuität, psychomotorische Symptome, Familienanamnese, etc.) unterscheiden, soll hier keine pauschale, hierarchische Einteilung (in Therapien erster oder zweiter Wahl) vorgenommen werden. Tabelle 1 stellt die bestehenden Indikationen mit einer Auswahl relevanter Literatur dar. Auf existierende Leitlinienempfehlungen wird explizit verwiesen.

Tabelle: Indikationen zur EKT

IndikationLiteraturhinweise
Unipolare Depression / depressive SyndromeS3-Leitlinie Unipolare Depression [4, 8]
Schizophrenie und Schizoaffektive SyndromeS3-Leitlinie Schizophrenie [3]
Bipolare affektive Störung (inkl. depressive und manische Syndrome, Mischzustände, rapid cycling, delirante Manie und 
delirante Depression)
S3-Leitlinie zur Diagnostik und Therapie Bipolarer Störungen [5, 11, 12]
Katatone Syndrome (inklusive perniziöse Katatonie und 
malignes neuroleptisches Syndrom)
S3-Leitlinie Schizophrenie  
[3, 13-16] 
Organisch/neuropsychiatrisch bedingte Syndrome wie unter Zeilen 1-4[17-21]
Therapieresistente schwere Verhaltensstörungen (z.B. schwere (Auto-)Aggression) i.R. neuropsychiatrischer Störungen, Demenzen, Autismus-Spektrum-Störungen und anderer intellektueller Entwicklungsstörungen[22-27]
Autoimmunenzephalitis (mit therapieresistenten, schweren psychiatrischen Symptomen)[28]
Therapierefraktäres Parkinson-Syndrom (motorische und psychiatrische Symptome)[17]
Therapierefraktärer Status epilepticus[29, 30]
Therapieresistente delirante Syndrome (inkl. therapieresistenten Benzodiazepin- oder Barbiturat-Entzugsdelirien)[31-34]

Neben der gut etablierten Wirksamkeit der EKT in der Akuttherapie liegen mittlerweile evidenzbasierte Konzepte zur Rezidivprophylaxe mittels Erhaltungs-EKT vor [35-37]. Diese sollte als Therapiebaustein allen Patienten angeboten werden, die unter optimierter pharmako- und psychotherapeutischer Behandlung keine Symptomstabilität bzw. Rezidivfreiheit erreichen. Frequenz und Dauer der Erhaltungs-EKT sind dem individuellen Krankheitsverlauf anzupassen. Auch sehr langfristige Erhaltungstherapien bergen kein kumulatives Risiko kognitiver Störungen [38], sondern beeinflussen den langfristigen Erkrankungsverlauf positiv.

2. Sicherheit und Auswirkungen auf Mortalität und Suizidalität

Die EKT gehört zu den sichersten Behandlungsverfahren in Narkose überhaupt. Die Mortalität lag bis 2001 bei ca. 1:50.000 Einzelbehandlungen (seitdem weiter abnehmend und unterhalb der Mortalität bei vergleichbaren chirurgischen Kurzzeiteingriffen) [39]. Das Behandlungsrisiko ist also im Wesentlichen das Narkoserisiko. Es ist vielfach belegt, dass es nicht zu strukturellen oder indirekt nachweisbaren Hirnschäden kommt. Die bildgebende Forschung der letzten Jahre hat im Gegenteil sogar einen Zuwachs von grauer Substanz unter der Behandlung nachgewiesen [40]. 

EKT wirkt mit hoher Effektstärke antisuizidal – ein Effekt, der auch 3 bis 6 Monate nach einer abgeschlossenen Behandlungsserie nachgewiesen werden konnte [41, 42]. Selbst nach einem Jahr liegt die Sterberate von EKT-Patienten noch ungefähr 50 % unter der von nicht mittels EKT behandelten Patienten [41].

3. Nebenwirkungen

Vorübergehende kognitive Störungen sind die relevanteste Nebenwirkung der EKT. Hauptsächlich ist die Gedächtnisleistung betroffen. Das Altgedächtnis (Ereignisse vor der EKT-Serie) und das Gedächtnis nach einer EKT-Serie sind nur extrem selten betroffen. Kurzfristige kognitive Nebenwirkungen sind häufig, meist mild bis moderat ausgeprägt und bilden sich i. d. R. innerhalb von 15-30 Tagen vollständig zurück [43, 44]. Im Verlauf kommt es in der Gesamtgruppe der EKT-Patienten zu einer Besserung der kognitiven Leistung, da sich mit der psychiatrischen Störung verbundene Defizite bei Ansprechen auf die EKT zurückbilden. Effektstärke und Nebenwirkungen unterscheiden sich zwischen rechts unilateraler und bilateraler Stimulation bei jeweils lege artis angepasster Stimulationsdosis/Ladungsmenge nicht klinisch relevant. Bei der Dosisbestimmung mit der „Altersmethode“ wird die Ladungsmenge ebenfalls dem Alter und der Elektrodenposition entsprechend angepasst.

Schwere Nebenwirkungen sind selten und zudem in der Regel akut gut behandelbar, wie hämodynamisch relevante Herzrhythmusstörungen, schwere Blutdruckanstiege, verlängerte Apnoe (und Muskelrelaxation), Aspiration und tardive Anfälle [36].

Unruhezustände beim Aufwachen aus der Narkose treten gelegentlich (unmittelbar nach der Behandlung) auf und sind im Weiteren durch ein optimiertes Narkoseregime i. d. R. vermeidbar. Spannungskopfschmerzen treten bei knapp einem Drittel der Patienten nach der EKT auf und lassen sich gut und auch prophylaktisch durch Analgetika behandeln. Übelkeit und Erbrechen nach EKT/Narkose können vorkommen und lassen sich ebenfalls durch prophylaktische Gabe von Antiemetika während der Narkose verhindern. Die Durchführung eines EEGs vor der EKT gilt nicht mehr als obligat. Nach einer EKT-Serie treten häufig unspezifische EEG-Veränderungen für mehrere Wochen und ohne klinisches Korrelat auf. Die EKT wird von den Patienten retrospektiv als gut bis sehr gut beurteilt [45].

4. Wirkmechanismus

Das Auslösen eines generalisierten Anfalls – d. h. eine synchronisierte Aktivität von Neuronengruppen im Gehirn – ist eine notwendige Bedingung für die Wirksamkeit der Therapie [46]. Dieser Anfall und die Fähigkeit des Gehirns, mittels verschiedenster Mechanismen den Anfall selbst zu beenden, führen wiederum zu Veränderungen, die zur Gesundung von Patienten mit verschiedenen, schweren psychiatrischen Krankheitsbildern beitragen [46]. Replizierte und zum Teil meta-analytisch nachgewiesene Effekte der EKT zeigen sich vor allem in den Bereichen Neuroplastizität (Anstieg neuronaler Wachstumsfaktoren und regionale Zunahme von grauer Substanz) [40, 47, 48], Inflammation (Reduktion von Entzündungsmediatoren) [49], funktionelle Konnektivität (Normalisierung pathologisch veränderter Hirnfunktionen) [50, 51] sowie der antikonvulsiven Wirkung (Anstieg von GABA und Verschiebung des Neurotransmitter-Verhältnisses von GABA/Glutamat) [46, 52].

5. Nutzen-Risiko-Abwägung

In Abhängigkeit von der Schwere und Akuität der psychischen Störung gibt es keine absoluten Kontraindikationen zur EKT. Eine intensivierte Nutzen-Risiko-Abwägung ist vor allem bei Patienten mit schweren somatischen Vorerkrankungen notwendig. Hier sollte eine individuelle, fachspezifisch interdisziplinäre Nutzen-Risiko-Beurteilung erfolgen.  
Hierunter fallen typischerweise vor allem Faktoren, die eine Anästhesie riskanter machen, wie ein kürzlich überstandener Herzinfarkt oder eine schwergradige, nicht behandelte koronare Herzerkrankung, andere schwerste kardiopulmonale Funktionseinschränkungen und ein schwerer arterieller, nicht medikamentös eingestellter Hypertonus, aber auch erhöhter Hirndruck, ein großer und frischer Hirninfarkt, eine mit Begleitödem versehene intrazerebrale Raumforderung, ein akuter Glaukomanfall oder Gefäßerkrankungen mit bekannt hohem Rupturrisiko. 

Höheres Lebensalter [53], Schwangerschaft [54], jüngeres Lebensalter (Kinder- und Jugendliche) [55], Einwilligungsunfähigkeit [56, 57] oder Herzschrittmacher [58, 59] stellen an sich kein erhöhtes Risiko dar. 

6. Informierte Einwilligung

Wie bei allen medizinischen Maßnahmen erfolgt vor Beginn der Therapie die Aufklärung und Einwilligung des Patienten oder – bei fehlender Einwilligungsfähigkeit – der gesetzlichen Vertretungspersonen. Unter den engen Voraussetzungen des § 1906a BGB kann die EKT auch als ärztlicher Eingriff gegen den natürlichen Willen des Patienten erfolgen, bisherige Fall-Kontroll-Studien zeigen hier eine identisch gute Wirksamkeit und retrospektiv positive Beurteilung durch die Patienten [56, 57, 60].

Beteiligte Fachgesellschaften

Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN)

Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP)

Schweizerische Gesellschaft für interventionelle Psychiatrie (SGIP)

Schweizerische Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD)

Österreichische Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (ÖGPP)

Società Italiana di Psichiatria (SIP)

Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie e. V. (AGNP)

Deutsche Gesellschaft für Biologische Psychiatrie e. V. (DGBP)

Deutsche Gesellschaft für Hirnstimulation in der Psychiatrie e. V. (DGHP)

 

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Thomas Pollmächer
Präsident DGPPN
Reinhardtstr. 29
10117 Berlin
Telefon: 030 240 4772 0
E-Mail: praesident@dgppn.de

 

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Weitere Informationen zur EKT

Literatur
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