24.02.2021 | Positionspapier Einer DGPPN-Task-Force

Neuregelung des §64 StGB aus psychiatrischer Sicht

Angesichts dramatisch steigender Unterbringungszahlen bei unverändert hoher Abbruchquote besteht weitgehend Einigkeit über den Reformbedarf im § 64 StGB. Aus psychiatrischer Sicht muss eine Neuregelung die Behandlungsbereitschaft und Selbstbestimmungsfähigkeit der Patienten zur Voraussetzung der Unterbringung machen. Die DGPPN legt hierfür einen konkreten Formulierungsvorschlag vor, der auch die dringend notwendige Entlastung des Maßregelvollzugs verspricht.

Zusammenfassung

  • In Deutschland geschehen jedes zweite Körperverletzungsdelikt und etwa jedes vierte Sexualdelikt unter Alkohol- oder Drogeneinfluss. Unbehandelte Substanzkonsumstörungen sind ein Risikofaktor für weitere Straftaten. § 64 StGB regelt die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für Straftäter in Folge eines Hangs zur Einnahme berauschender Substanzen im Übermaß.
  • Die bisherige Regelung steht in der Kritik, weil zu viele Patienten zugewiesen werden, das Angebot oftmals die falschen Personen bekommen, die Behandlung häufig nicht erfolgreich beendet wird und das Angebot zu viele Ressourcen verbraucht.
  • Eine Reform der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) muss aus psychiatrischer Sicht den medizinethischen Prinzipien, insbesondere dem Respekt vor der Autonomie des Patienten, dem Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit und der ärztlichen Berufsordnung gerecht werden.
  • Die Unterbringung nach § 64 StGB muss auf die Behandlung von Menschen mit klinisch relevanten Substanzkonsumstörungen beschränkt werden.
  • Entscheidend für die Erfolgsaussicht einer psychiatrischen Suchtbehandlung sind die Behandlungsbereitschaft und Selbstbestimmung bei Aufnahme in die Klinik.
  • Um die Therapie von behandlungsfremden Einflüssen des Strafvollstreckungsrechts zu entlasten, sollte bei Antritt der Behandlung bereits so viel Strafe verbüßt sein, dass die Unterbringung nur noch dem Behandlungs- und Resozialisierungszweck und dem Ziel dient, das Risiko weiterer substanzmittelbedingter Straftaten zu senken.
  • Der Begriff „Entziehungsanstalt” sollte ersetzt werden durch die angemessenere Bezeichnung „Forensische Klinik für Abhängigkeitserkrankungen”.

Vorbemerkung

Bei einer Einwohnerzahl von etwas über 83 Millionen summiert sich in Deutschland die Anzahl der Menschen mit Störungen durch Alkohol- oder Drogenkonsum auf etwa 4 Millionen Menschen. Die Mehrheit nimmt fachgerechte therapeutische Hilfe kaum in Anspruch. Viele Straftaten werden unter dem Einfluss berauschender Mittel begangen. Etwa jedes zweite Körperverletzungsdelikt und etwa jedes vierte Sexualdelikt geschehen unter Alkohol- oder Drogeneinfluss. Unbehandelte Substanzkonsumstörungen sind ein Risikofaktor für weitere Straftaten.  

Zur Behandlung stehen in Deutschland zur Verfügung: die freiwilligen ambulanten und stationären Angebote, die von den Gesundheitskassen getragen werden, die Rehabilitationsangebote der Rentenversicherungsträger, das ebenfalls von den Rentenversicherungsträgern finanzierte Angebot Zurückstellung der Strafe zur Therapie bei betäubungsmittelbedingten Straftaten (§ 35 BtMG), die von den Justizministerien getragenen Behandlungsangebote innerhalb der Justizvollzugsanstalten sowie die zumeist von den Sozialministerien getragene Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB für Straftäter mit einem Hang zur Einnahme berauschender Substanzen im Übermaß. 

Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt steht in der Kritik, insbesondere, weil zu viele Patienten zugewiesen würden, weil das Angebot oft die Falschen bekämen, weil die Behandlung häufig nicht erfolgreich beendet werde, weil das Angebot zu viele Ressourcen verbrauche. Gegenwärtig steht der § 64 erneut vor der Reformierung. Mit 132 Wörtern regelt er die Zugangskriterien der Unterbringung. Je nachdem, welche Kriterien man verändert, präzisiert, einengt oder erweitert, erhalten Betroffene Zugang zu diesem aufwändigen Behandlungsangebot oder werden davon ausgeschlossen. Schaffte man diese Form der Unterbringung ab, wären die gegenwärtig beinahe 4500 Patienten unversorgt oder müssten in den Justizvollzugsanstalten (JVAs) betreut werden. Weitete man die Eingangskriterien deutlich aus, kämen noch mehr Betroffene aus den JVAs in die Klinken zur Behandlung.

Der folgende Vorschlag der DGPPN engt die Unterbringung auf die Behandlung von selbstbestimmungsfähigen und zur Behandlung motivierten Menschen mit einer mindestens mittelgradigen Substanzkonsumstörung oder einer Abhängigkeit ein, die auf Grund ihrer Störung straffällig geworden sind und deren Behandlung ihre weitere Gefährlichkeit mindert. Andere Straftäter mit Substanzkonsum erhalten dieses Angebot dagegen nicht. Für diejenigen aus dieser Gruppe, die zu einer Behandlung motiviert sind, müssen differenzierte Behandlungsangebote in den JVAs geschaffen werden. Für Geeignete, für die gegebenenfalls weitere rechtliche Voraussetzungen erfüllt sind, könnten die Betreuungsangebote des Gesundheitssystems oder der Rentenversicherungsträger (Aussetzung bzw. Zurückstellung der Strafe zur Bewährung bzw. mit der Auflage der Behandlung) geöffnet werden.

1. Aktuelle Situation und Reformbedarf

Das Maßregelrecht dient dem Schutz der Öffentlichkeit durch Behandlung der Täter. Das System stationärer Maßregeln kennt die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB, die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB sowie die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB. Das deutsche Maßregelrecht steht seit Jahren aus unterschiedlichen Gründen in kritischer Diskussion. Während die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB in Folge von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des EGMR ab 2011 und die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik nach § 63 StGB auch in Folge des Falles Mollath im Sommer 2016 grundlegend reformiert wurden, wird nun auch eine Überarbeitung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gefordert.

Seit Jahren werden beträchtliche und kontinuierlich steigende Ressourcen verausgabt (siehe Hintergrundinformationen), die den immer weiter steigenden Bedarf dennoch nicht decken. Hinzu kommt, dass im Bundesdurchschnitt etwa jede zweite Behandlung in einer Entziehungsanstalt wegen fehlender Erfolgsaussicht abgebrochen wird.

Zudem sieht die aktuelle Diskussion um die Stärkung der Patientenautonomie und um die Zwangsbehandlung selbstbestimmungsfähiger Menschen die Übernahme rein ordnungspolitischer Aufgaben durch die Psychiatrie kritisch. Die Unterbringung nach § 64 StGB betrifft aber überwiegend verantwortliche und autonome Menschen, denen eine Unterbringung und Behandlung zur präventiven Reduzierung des Rückfallrisikos in der Psychiatrie auferlegt wird. In der aktuellen Situation können die Betroffenen im Idealfall in einer persönlichen Kosten-Nutzen-Rechnung das Strafmaß reduzieren, Therapie statt Strafe auferlegt bekommen und eine frühzeitigere Entlassung in die Freiheit erreichen. Die Betroffenen werden insofern bessergestellt als andere Straftäter, sodass sie häufig die Unterbringung in der Entziehungsanstalt anstreben. Andererseits kann der Freiheitsentzug bis zum Therapieabschluss länger dauern als die bloße Verbüßung der vollständigen Strafe.

Die rechtlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt werden sehr weitgehend ausgelegt: weder ist die psychiatrische Diagnose einer Abhängigkeit erforderlich noch ein stringenter Nachweis eines engen, kausalen Zusammenhangs von Straftaten und Substanzmittelwirkung; auch die geforderte Feststellung einer hinreichend konkreten Erfolgsaussicht lässt sich in foro nicht empirisch belastbar erzielen. Insofern verwundert es nicht, dass zunehmend Behandlung auf Grundlage des § 64 StGB nachgesucht und angeordnet wird. Dies überfordert die psychiatrischen Behandlungseinrichtungen qualitativ sowie quantitativ und wird der Herausforderung der erfolgreichen Behandlung dieser zugewiesenen Patienten nur unzureichend gerecht.

Bisherige Reformvorschläge zielen auf die effizientere Ressourcennutzung durch Einengung der Anordnungsvoraussetzungen auf relevante psychiatrische Störungen, auf engeren Kausalitätsnachweis und auf die Gleichstellung von Behandlungs- und Haftdauer. Aus psychiatrischer Perspektive müssen die Reformüberlegungen indes weiterreichen und durch die medizinethischen Prinzipien des Respekts vor der Autonomie, des Wohltuns, des Nichtschadens und der Verteilungsgerechtigkeit geleitet sein. Zudem müssen sie mit den Bestimmungen der ärztlichen Berufsordnung (MBO-Ä) [1] vereinbar sein. Dies berücksichtigend stellt die DGPPN einen eigenen Reformvorschlag für die Unterbringung in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen zur Diskussion, der für die Behandlungsindikation deutlicher als der bisherige § 64 StGB auf die (psychiatrische) Diagnose einer Substanzkonsumstörung (DSM-5) bzw. einer Psychischen und Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen: Abhängigkeitssyndrom (ICD-10/11) [2] sowie eine unter Beweis gestellte Behandlungsbereitschaft und -motivation abstellt.

Das vorliegende Positionspapier der DGPPN beschränkt sich auf die Unterbringung in einer Klinik des Maßregelvollzugs in dem Bewusstsein, dass entsprechende Therapieangebote insbesondere in den Justizvollzugsanstalten deutlich ausgebaut werden müssen.

2. Reformüberlegungen und Zielsetzung

Aus Sicht der DGPPN sollte die Unterbringung nach § 64 StGB auf die Behandlung von Menschen mit einer relevanten Störung durch psychotrope Substanzen nach dem jeweils gültigen psychiatrischen Klassifikationssystem (d. h. mindestens eine mittelgradige Substanzkonsumstörung (DSM-5) bzw. einer Psychischen und Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen: Abhängigkeit (ICD-10/11) [3] beschränkt und das überholte Konzept des „Hanges“ [4] aufgegeben werden. Entscheidend für die psychiatrische Suchtbehandlung ist nicht allein der Zustand zu einem zurückliegenden Tatzeitpunkt, sondern die Behandlungsbereitschaft und Selbstbestimmungsfähigkeit bei der Behandlung. Bei Aufnahme in die Klinik soll bereits so viel Strafe verbüßt worden sein, dass die Unterbringung nur dem Behandlungs- und Resozialisierungszweck und dem Ziel dient, das Risiko weiterer substanzmittelbedingter Straftaten zu senken. Der Begriff “Entziehungsanstalt” sollte ersetzt werden durch „Forensische Klinik für Abhängigkeitserkrankungen”. 

Schuldunfähige Täter
Täter dieser Gruppe (die Strafverfolgungsstatistik für 2019 weist 91 Maßregelanordnungen gemäß § 64 StGB gegen Täter aus, die bei Begehung der Tat schuldunfähig waren) [5] haben im Zustand aufgehobener Schuldfähigkeit gehandelt. Dieser Zustand zum Tatzeitpunkt wurde durch eine Intoxikation/Delir/Halluzinose ausgelöst. Handelt ein Täter ohne Schuld, wird eine Strafe nicht verhängt. Allerdings kann seine Unterbringung angeordnet werden. Die Unterbringung erfolgt zur Verhinderung weiterer Straftaten. Verfassungsrechtlich ist die präventive Freiheitsentziehung in den Fällen des § 64 StGB dabei nur zu rechtfertigen, wenn die Prävention durch Behandlung erfolgt. Das setzt voraus, dass Behandlung möglich ist. An der Indikation für eine Behandlung im Maßregelvollzug kann es dabei auch fehlen, wenn die Behandlung in der psychiatrischen und suchtmedizinischen Regelversorgung stattfinden kann und die Notwendigkeit der Delinquenzbearbeitung nicht die Behandlung in einer forensisch-psychiatrischen Klinik erfordert.

Auch Täter, die eine rechtswidrige Tat im Zustand aufgehobener Schuldfähigkeit begangen haben, dürfen nur unter Beachtung ihres Selbstbestimmungsrechts psychiatrisch und psychotherapeutisch behandelt werden. Ihre Unterbringung zur Behandlung kommt deshalb nur in Betracht, wenn sie dieser Maßnahme zustimmen. Der Zeitpunkt, in dem sie ihre Zustimmung erteilen müssen, ist die gerichtliche Hauptverhandlung, an deren Ende entweder die Anordnung der Unterbringung oder ein Freispruch steht. Ist ein angeklagter Täter in der Hauptverhandlung nicht selbstbestimmungsfähig, kommt die Anordnung seiner Unterbringung allenfalls dann in Betracht, wenn konkrete Umstände dafürsprechen, dass er sich nach Wiedererlangung der Selbstbestimmungsfähigkeit zu einer Behandlung der Substanzkonsumstörung bzw. der Abhängigkeit in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen entscheiden wird. Die Suchtbehandlung muss angezeigt sein.

Stimmt ein Betroffener der Behandlung zu oder gelingt es, ihn zu motivieren, so dass er sich für eine Behandlung entscheidet, kann er von dem Behandlungsangebot profitieren und wird bei der Behandlung der Substanzkonsumstörung und der Resozialisierung fachgerecht unterstützt. Stimmt er der Behandlung nicht zu und ist auch nicht zu erwarten, dass er seine Zustimmung nach Wiederherstellung seiner Selbstbestimmungsfähigkeit erteilen wird, kann ihm keine Strafe auferlegt werden. Es kann erforderlich sein, Führungsaufsicht anzuordnen. Gelingt es nach Beginn der Unterbringung nicht mehr, den Betroffenen zu einer weiteren selbstbestimmten Teilnahme an der Behandlung zu motivieren oder entscheidet er sich nach Beginn der Behandlung dagegen, ist er zu entlassen; die Unterbringung muss dann für erledigt erklärt werden. 

Dieser Vorschlag entspricht weitgehend der gegenwärtigen Praxis: Schuldunfähige Täter sind in dem Kontext des § 64 StGB selten. Sie dürfen nicht bestraft werden, eine Behandlung ist an eine hinreichend konkrete Erfolgsaussicht gebunden. Besteht diese nicht, ist der Betroffene auch gegenwärtig zu entlassen. Die Anordnung einer Unterbringung selbstbestimmungsfähiger Menschen gegen ihren erklärten Willen, um die Motivation zu wecken, wäre aus psychiatrischer Sicht kritisch zu werten.

Schuldfähige Täter
Werden Täter mit einer mindestens mittelgradigen Substanzkonsumstörung bzw. Abhängigkeit und einer Substanzkonsum bedingten erheblichen Gefährlichkeit wegen einer rechtswidrigen Tat verurteilt, muss nicht schon mit dem Urteil auch abschließend über eine Unterbringung zur Behandlung ihrer Substanzkonsumstörung entschieden werden; die Anordnung der Unterbringung kann zunächst vorbehalten werden. Zu Freiheitsstrafe verurteilte Betroffene können dann schon während der Verbüßung ihrer Strafe Suchtberatungs- und -behandlungsangebote zur Motivation und Therapievorbereitung wahrnehmen und anschließend eine Behandlung in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen beantragen. Nach Prüfung und Bewertung des Behandlungsantrags durch die Justizvollzugsanstalt und einen forensisch-psychiatrisch und in der Suchtbehandlung erfahrenen Sachverständigen, wird der Betroffene in die Forensische Klinik für Abhängigkeitserkrankungen aufgenommen mit dem Ziel, die Motivation des Patienten weiter zu fördern und ihm die Teilnahme an den therapeutischen Angeboten zu ermöglichen. Bei der Entscheidung über die Aufnahme in die Klinik durch die Strafvollstreckungskammer werden die JVA, der Sachverständige und der Betroffene gehört. Die Erforderlichkeit der Unterbringung, ihre Erfolgsaussicht und die Belastbarkeit der Behandlungsbereitschaft des Betroffenen werden in der Folge halbjährlich gerichtlich überprüft. Bei positivem Verlauf wird die Fortführung der Unterbringung zur Weiterbehandlung der Substanzkonsumstörung und zur Förderung der Resozialisierung angeordnet. Sollten Therapiebereitschaft oder Erfolgsaussicht nicht mehr vorliegen, wird der Betroffene in die Strafverbüßung zurückgeführt. Bei der Entscheidung über die Fortdauer oder Beendigung der Unterbringung werden die Klinik und der Betroffene erneut gehört.

Diagnose einer Psychischen oder Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen gemäß ICD bzw. DSM
Die gegenwärtig gültige Internationale Klassifikation psychischer Störungen ICD-10 wird bald durch ICD-11 ersetzt. ICD-11 wird die diagnostischen Konzepte des ICD-10 weitgehend übernehmen. Das Vorliegen einer entsprechenden Störung ist Voraussetzung für eine Behandlung in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen. Diese ist die Grundlage der Gefährlichkeit des Probanden. Das Fortbestehen einer unbehandelten Abhängigkeit (ICD-10) oder erheblichen Substanzkonsumstörung (s. DSM-5) wird mit Wahrscheinlichkeit weitere Einbußen der Leistungsfähigkeit und Teilhabe bedingen, die auch weitere Straftaten befürchten lassen, ohne dass durch die Diagnose alleine bereits konkret Konnexität und Kausalität zwischen Diagnose und Straftat zu bejahen sind. Eine Vielzahl der Straftaten geschieht unter Alkohol und Drogeneinfluss (s. u.). Die erfolgreiche Behandlung dieser Substanzkonsumstörungen ist geeignet, das Risiko weiterer erheblicher rechtswidriger Taten zu vermindern. Eine deutliche Ausweitung der Betroffenengruppe im Sinne des gegenwärtigen rechtlichen Konzepts des Hangs zur Einnahme psychotroper Substanzen im Übermaß verlässt den Boden evidenzbasierter medizinischer Diagnose- und Behandlungskonzepte.

Frage der Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt
Zu Recht wird bereits gegenwärtig die Unterbringung in eine Entziehungsanstalt nicht an eine zum Tatzeitpunkt angenommene, erheblich verminderte oder aufgehobene Schuldfähigkeit gebunden. Nach Auskunft der Stichtagserhebung 2018 sind nur etwas mehr als ein Drittel der Untergebrachten bei der Straftat in ihrer Schuldfähigkeit erheblich vermindert gewesen, beinahe zwei Drittel waren voll schuldfähig. Die Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamtes weist für 2019 sogar einen Anteil von 70 % voll schuldfähiger Täter bei den Neuanordnungsfällen einer Unterbringung nach § 64 StGB aus. Patienten mit aufgehobener Schuldfähigkeit waren selten (2019: 91 von insgesamt 3138 Anordnungsfällen). Die Behandlung einer Alkohol- bzw. Drogenkonsumstörung/ Abhängigkeit und deren Erfolgsaussicht korreliert nur lose mit der Schuldfähigkeit, denn diese hängt wesentlich vom Zustand des Täters zum Tatzeitpunkt und der zum Tatzeitpunkt bestehenden Substanzeinnahme ab. Aus psychiatrischer Perspektive sind dagegen Behandlungsmotivation und informed consent zum Zeitpunkt der Behandlung entscheidend. Darüber hinaus sind für die Beurteilung der Indikation und Erfolgsaussicht einer Behandlung nicht der konkrete, häufig eng begrenzte Zeitraum der Schuldfähigkeit bei Begehung der konkreten und spezifischen Tat beziehungsweise der Gerichtsverhandlung entscheidend, sondern die Selbstbestimmungsfähigkeit und Behandlungsmotivation bei Therapieantritt bzw. während der Behandlung in einer konkreten Klinik.  

Klarer Zusammenhang zwischen Substanzkonsumstörung, Straftat und Gefährlichkeit 
Die Behandlung der Störung zielt auf die Abstinenz bzw. Linderung der Substanzkonsumstörung mit dem Ziel, das Risiko von im Substanzmittelkonsum begründeten Straftaten durch Wegfall der suchtbedingten Motive zu minimieren. Die Art des Zusammenhangs ist inzwischen in der Rechtsprechung sehr weit gefasst. So wird es als hinreichend erachtet, dass der Wunsch, sich beispielsweise von dem Erlös aus einer Straftat, auch Bier bzw. Drogen zu kaufen, diesen Zusammenhang begründen kann. Auch deswegen stieg die Zahl der Anordnung der Unterbringung nach §64 StGB in den letzten Jahren stark an. Diese rechtliche Konzeptualisierung überschreitet bei weitem die psychiatrische Perspektive, der zu Folge in der Suchterkrankung begründete Taten ihre wesentliche Motivation im Craving, also im Drogenhunger, oder in der Notwendigkeit, Drogen zu erwerben, um als gravierend erlebte Entzugssymptome zu vermeiden oder zu lindern, oder in der konkreten Substanzmittelwirkung hat. Die so gefasste Konnexität grenzt die Behandlungsindikation sehr stark ein und stellt auf einen psychischen Zustand zu einem konkreten, zurückliegenden Tatzeitpunkt ab und nicht auf den Zustand bei Antritt der Behandlung. Diese Bedingung einer engen kausalen Verknüpfung der Straftat mit der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Substanzkonsumstörung wird von einem Teil der Betroffenen mit Substanzkonsumstörungen nicht erfüllt, selbst wenn Behandlungsbereitschaft, -motivation und auch Behandelbarkeit vorliegen. Für sie kommt die Maßregelanordnung nicht in Frage. 

Achtung des Selbstbestimmungsrechts 
Ärztliche Behandlung wird legitimiert durch das informierte Einverständnis des selbstbestimmungsfähigen Betroffenen und seine Bereitschaft, an der Behandlung mitzuwirken. Behandlung gegen den freien Willen eines Betroffenen ist nicht zulässig. Nur unter eng definierten rechtlichen Bedingungen kann bei nicht selbstbestimmungsfähigen Menschen der Versuch unternommen werden, mit einer befristeten Behandlung gegen ihren natürlichen Willen die Selbstbestimmungsfähigkeit wiederherzustellen. Vor der Anordnung der Behandlung einer Substanzmittelabhängigkeit muss der Betroffene deshalb zustimmen. Zustände, die zum Tatzeitpunkt Schuldunfähigkeit bedingt haben können, sind in der Hauptverhandlung in der Regel abgeklungen, so dass die meisten Betroffenen sich zu diesem oder einem späteren Zeitpunkt selbstbestimmt für eine Behandlung entscheiden können. Besteht in seltenen Fällen die Selbstbestimmungsfähigkeit noch nicht, so kann allenfalls im vermuteten Interesse des nicht selbstbestimmungsfähigen Betroffenen eine Unterbringung angeordnet werden. Stimmt der Betroffene bei der nächsten Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung der Behandlung nicht zu, wird die Behandlung abgebrochen und der Betroffene aus der Unterbringung entlassen. Dies gilt auch, wenn es nicht gelungen ist und keine Aussicht besteht, seine Selbstbestimmungsfähigkeit wiederherzustellen. 

3. Reformvorschläge

Der vorliegende Entwurf engt die Voraussetzungen für die Aufnahme in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen auf selbstbestimmungsfähige, zu einer Behandlung motivierte Straftäter mit einer zumindest mittelgradigen Substanzkonsumstörung bzw. einer Psychischen oder Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen: Abhängigkeit ein. Der Begriff „Entziehungsanstalt” wird ersetzt durch den Begriff „Forensische Klinik für Abhängigkeitserkrankungen”. Regelmäßige Überprüfungen der Motivation und Behandlungsbereitschaft ersetzen die Beurteilung der hinreichend konkreten Erfolgsaussicht während der Hauptverhandlung. Therapiefremde Anreize entfallen. Bei einer engen kausalen Verknüpfung von Substanzkonsumstörung bzw. Abhängigkeit und Straftat wird nur bei einem kleinen Teil der Straftäter mit Substanzkonsumstörung die Unterbringung in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen angeordnet. Der größere Teil wird den Justizvollzugsanstalten überstellt. Aus Gründen der Gerechtigkeit muss das dortige Behandlungsangebot verbessert werden. Dies kann auch implizieren weitere Behandlungsangebote für die Betroffenen zu öffnen.

Forschung 
Die Umstrukturierung des Betreuungsangebots muss wissenschaftlich begleitet und die Konsequenzen evaluiert werden.

Formulierungsvorschlag Strafgesetzbuch
Auf der Grundlage dieser Prämissen ergibt sich aus Sicht der Psychiatrie ein Behandlungsangebot für Straftäter in Folge einer Substanzkonsumstörung mit dem Ziel, weitere substanzkonsumbedingte Straftaten zu verhindern, das wie folgt formuliert werden könnte:  

§ 64 StGB Unterbringung zur Behandlung in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen

1) 1) Leidet eine Person an einer Substanzmittelabhängigkeit oder einer sonstigen zumindest mittelschweren Alkohol- oder Drogenkonsumstörung (Substanzkonsumstörung) und hat sie eine erhebliche rechtswidrige Tat im Zustand der in ihrer Substanzkonsumstörung begründeten erwiesenen oder nicht auszuschließenden Schuldunfähigkeit (§ 20 StGB) begangen, soll das Gericht die Unterbringung in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihrer Substanzkonsumstörung weitere erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, und eine Suchtbehandlung angezeigt und geeignet erscheint, dieser Gefahr entgegen zu wirken.
   2) Das Gericht trifft die Anordnung nach Satz 1 nur, wenn die Person der Suchtbehandlung zustimmt oder wenn zu erwarten ist, dass sie nach Wiederherstellung der Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung ihre Zustimmung erteilen wird. 3Das Gericht ordnet Führungsaufsicht an, wenn die Unterbringung nur deshalb nicht möglich ist, weil die Voraussetzungen des Satzes 2 nicht vorliegen. 

2) Leidet eine Person an einer Substanzmittelabhängigkeit oder einer sonstigen zumindest mittelschweren Alkohol- oder Drogenkonsumstörung (Substanzkonsumstörung) und wird sie wegen einer erheblichen rechtswidrigen Tat, die in der Substanzkonsumstörung begründet ist, zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, soll das Gericht die Anordnung der Unterbringung in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen vorbehalten, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihrer Substanzkonsumstörung weitere erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, und eine Suchtbehandlung angezeigt und geeignet erscheint, dieser Gefahr entgegen zu wirken. 

3) 1) Das Gericht ordnet die nach Absatz 2 vorbehaltene Unterbringung an, wenn 

(a) die verurteilte Person dies beantragt, 
(b) sie während des Strafvollzugs oder einer anderen der Anordnung unmittelbar vorangehenden Freiheitsentziehung oder Bewährungszeit für die Dauer von mindestens sechs Monaten regelmäßig an Suchtberatungsangeboten teilgenommen hat, 
(c) eine Suchtbehandlung angezeigt und geeignet ist, um weiteren erheblichen rechtswidrigen Taten entgegen zu wirken, und 
(d) im Zeitpunkt des voraussichtlichen Beginns der Unterbringung mindestens ein Drittel der zeitigen Freiheitsstrafe oder zehn Jahre der lebenslangen Freiheitsstrafe vollstreckt oder durch Anrechnungszeiten erledigt sind.  

§ 67d StGB Dauer der Unterbringung  

5) 1) Das Gericht erklärt die Unterbringung in einer Forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankungen für erledigt,  
1. wenn die untergebrachte Person der weiteren Behandlung widerspricht und nicht aufgrund konkreter Umstände zu erwarten ist, dass sie sich alsbald umentscheiden wird, oder 
2. wenn nach Beginn der Unterbringung Umstände erkennbar werden, die gegen eine Indikation zur Suchtbehandlung oder gegen die Eignung dieser Behandlung sprechen, der Gefahr entgegen zu wirken, dass die untergebrachte Person infolge ihrer Substanzkonsumstörung weitere erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, oder  
3. wenn es nicht gelingt, die untergebrachte Person zur Mitwirkung an der Behandlung zu motivieren oder die Motivation aufrechtzuerhalten, oder 
4. wenn sich nach Beginn der Unterbringung ergibt, dass keine hinreichend konkrete Aussicht mehr besteht, die Persönlichkeit der untergebrachten Person und ihre Umweltbedingungen so zu stabilisieren und zu beeinflussen, dass sie im Stadium der Entwöhnung beharrt und deshalb keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr von ihr zu erwarten sind.  

    2) Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Unterbringung tritt Führungsaufsicht ein.

Autoren: J. Müller, M. Koller, F. Böcker, J. Muysers, B. Eusterschulte, T. Pollmächer
Dieses Positionspapier entstand im Rahmen der DGPPN-Task-Force „Psychiatrie im Spannungsfeld von ärztlichem Behandlungsethos, Interessen Dritter und rechtlichen Anforderungen“. 

4. Literatur

[1] MBO-Ä (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte – MBO-Ä 1997 –*) in der Fassung der Beschlüsse des 121. Ärztetages 2018 in Erfurt geändert durch Beschluss des Vorstandes der Bundesärztekammer am 14.12.2018 
[2] ICD-10 Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. 10. Revision. Version 2019 
[3] Radde S, Majic T, Gutwinski S (2020) Abhängigkeitserkrankungen und Suchtbehandlung in Deutschland, in:  Müller JL und Koller M (Hrsg) Reformansätze zur Unterbringung nach § 64 StGB. Der zweischneidige Erfolg der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Kohlhammer Verlag 2020, S. 103-136 
[4] Radtke H (2020) Bemerkungen auf der Grundlage der Rechtsprechung, in: Müller JL und Koller M (Hrsg) Reformansätze zur Unterbringung nach § 64 StGB. Der zweischneidige Erfolg der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Kohlhammer Verlag 2020, S. 57-83 
[5] Statistisches Bundesamt (2018) Strafverfolgungsstatistik, Fachserie 10 Reihe 3 

Hintergrundinformationen

Substanzkonsum und Straftaten
In Deutschland wird die 12-Monatsprävalenz von Menschen mit Störungen durch Alkohol- oder Drogenkonsum mit 5,7 % beziffert [1]. Bei einer Einwohnerzahl von etwas über 83 Millionen summiert sich die Anzahl der Menschen mit Störungen durch Alkohol- oder Drogenkonsum auf etwa 4 Millionen Menschen. Von den von einer psychischen Störung betroffenen Menschen nehmen pro Jahr nur 18,9 % Kontakt zum Gesundheitssystem auf [1, 2, 3]. Die Mehrheit nimmt fachgerechte therapeutische Hilfe kaum in Anspruch.

Viele Straftaten geschehen unter dem Einfluss berauschender Mittel, überwiegend von Alkohol. Ausweislich der Polizeilichen Kriminalstatistik [4] standen insgesamt etwa 11,7 % der über 2 Millionen Tatverdächtigen unter Alkoholeinfluss. Unter den Körperverletzungstätern und Gewaltstraftätern stieg dieser Anteil deutlich an und überschritt bei den Widerstandshandlungen die 50 %-Marke. Bei Totschlag und Tötung auf Verlangen waren es 27,5 % von 2111 Tatverdächtigen, bei Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexuellem Übergriff in besonders schwerem Fall 24,6 % von 8139 Tatverdächtigen. Bei Gewaltkriminalität betrug der Anteil 25,2 % von 173.140 Tatverdächtigen. Weitere 6,5 % der über 2 Millionen Tatverdächtigen waren Konsumenten harter Drogen [4]. Diese Zahlen verdeutlichen die Relevanz psychotroper Substanzen bei der Entstehung rechtswidriger Handlungen, insbesondere von Gewalt- und Sexualstraftaten.

Für zu einer Gefängnisstrafe verurteilte Täter sieht das deutsche Recht vor, dass Behandlungsstrukturen innerhalb der Justizvollzugsanstalten genutzt werden können. In besonderen Fällen von Straftaten unter Betäubungsmitteleinfluss kann, sofern die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind, die Strafvollstreckung zurückgestellt werden, wenn sich der verurteilte Täter wegen seiner Betäubungsmittelabhängigkeit in Behandlung begibt (§ 35 BtMG). Darüber hinaus sieht das Strafgesetzbuch die Möglichkeit der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB vor.

Diese Maßregel ist an das rechtliche Konstrukt des Hangs, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, geknüpft sowie an eine rechtswidrige Tat, die der Täter im Rausch begangen hat oder die auf seinen Hang zurückgeht. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wird angeordnet, wenn die Gefahr besteht, dass der Betroffene infolge seines Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird und eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, dass er über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang bewahrt und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten, die auf den Hang zurückgehen, abgehalten werden kann.

Die Zahl der Patienten, die auf Grundlage des § 64 StGB untergebracht werden, ist in den letzten Jahren erheblich gestiegen und steigt weiter kontinuierlich an. Die Maßregelvollzugsstatistik des Statistischen Bundesamtes weist im Zeitraum von 2000 bis 2014 eine deutliche Steigerung aus. Seit 1990 sind die Patientenzahlen von 1160 auf 3822 im Jahr 2014 angestiegen. Damit hat sich diese Zahl vervierfacht. Die von der letzten Revision des Rechts der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt im Jahre 2007 mit einer Reihe von Veränderungen im Detail erhoffte Drosselung der Unterbringungszahlen ist demnach ausgeblieben. Gegenwärtig sind in Deutschland etwa 4500 Personen auf Grundlage des § 64 StGB untergebracht. Die verfügbaren Kapazitäten sind ausgeschöpft, d. h. es müssen neue Behandlungsplätze und Stationen geschaffen werden.  

Reformbedarf im Maßregelvollzug

Der kontinuierliche Anstieg wird an eigentlich allen zentralen Tatbestandsmerkmalen des § 64 StGB in seiner heutigen Fassung festgemacht: 

Der der Unterbringung zugrundeliegende rechtliche Hangbegriff ist wesentlich weitergefasst, als es die Kriterien einer psychischen Störung gemäß den operationalisierten internationalen Diagnosesystemen zulassen. Die Patientenklientel der Entziehungsanstalt hat sich daher in mehrfacher Weise verändert. Während bis zur Jahrtausendwende Patienten mit Alkoholproblemen überwogen haben, steht nun der Konsum von unterschiedlichen Drogen im Vordergrund (Polytoxikomanie). Dabei erfüllt eine nicht unbeträchtliche Anzahl der Betroffenen die psychiatrischen Kriterien einer Abhängigkeit von psychotropen Substanzen (ICD 10) oder einer relevanten Substanzkonsumstörung (DSM-5) nicht. Zunehmend kommen also Patienten in die Unterbringung, bei denen eine relevante Abhängigkeit oder Substanzkonsumstörung nicht vorliegt.

Auch der Kausalitätsbegriff ist inzwischen sehr weit gefasst. So ist nicht mehr gefordert, dass die Straftat direkt auf die Substanzmitteleinahme zurückgeführt werden kann oder dass der Drogenkonsum eine relevante Bedingung, also eine entscheidende Voraussetzung für die Begehung der Straftat ist. Stattdessen genügt ein sehr weit gefasster, korrelativer Zusammenhang, wobei es ausreichen kann, wenn die Straftat lediglich sehr locker mit dem Substanzmittelkonsum verbunden ist. In der Folge werden auch Menschen in die Unterbringung gebracht, bei denen der Drogenhandel einträgliche Erwerbsquelle ist, während der persönliche Drogenkonsum bzw. die Abhängigkeit dem Profitinteresse gegenüber nachrangig sind [5]. Diese Probanden verändern aber die therapeutische Atmosphäre nachteilig und fördern die Ausbildung therapiefeindlicher Strukturen in den Einrichtungen. 

Schließlich hat sich die Prüfung des vom Bundesverfassungsgericht bereits 1994 festgeschriebenen und mit der Revision 2007 auch im Gesetzestext verankerten Erfordernisses der „hinreichend konkreten Aussicht auf Erfolg“ in der gerichtlichen Hauptverhandlung als nicht wirksam erwiesen. Nur wenn eine hinreichend konkrete Aussicht auf Erfolg besteht, darf die Maßregel nach § 64 StGB angeordnet werden. Dennoch wird inzwischen bundesweit jede zweite Behandlung (30 bis 70 Prozent der zugewiesenen Patienten) wegen fehlender Erfolgsaussicht beendet. Patienten in der Entziehungsanstalt nach § 64 StGB sind häufig komorbid belastet, wobei Impulsivität und Antisozialität in Verbindung mit der Polytoxikomanie besonders herausfordern. Es werden zunehmend Personen zur Behandlung untergebracht, bei denen Dissozialität und Bereitschaft zum Regelverstoß die durch den Hang zur Einnahme psychotroper Substanzen bedingte Behandlungsindikation überwiegen. Damit einher geht , dass eine ebenfalls wachsende Anzahl von Patienten die Behandlung nicht erfolgreich abschließen kann. Patienten, bei denen die Therapie wegen fehlender Erfolgsaussicht abgebrochen wurde, stellen eine besondere Risikoklientel dar; bei ihnen besteht nicht nur eine ungünstige Perspektive für Abstinenz, sondern auch für die Legalbewährung. 73 % dieser Patienten werden innerhalb von drei Jahren erneut straffällig [6]. 

Nach der bestehenden Gesetzeslage ist bei suchtkranken Straftätern (§ 64 StGB) mit langen Begleitstrafen der Vorwegvollzug gem. § 67 Abs. 5 so zu bemessen, dass eine Entlassung in die Freiheit zum Halbstrafenzeitpunkt erfolgen kann. Die Unterbringung in der Strafhaft orientiert sich hingegen bei erheblichen Vorstrafen in der Regel am 2/3-Zeitpunkt. Für Täter mit höherer Straferwartung wird die Unterbringung gemäß § 64 StGB schon deshalb gehäuft strategisch angestrebt. Hinzu kommt, dass der Maßregelvollzug als Behandlungsmaßnahme mehr Freiräume und insbesondere die Chance auf frühzeitige Vollzugslockerungen eröffnet. Insofern wird die Unterbringung weniger zur Behandlung als vielmehr auch aus vollstreckungs- und vollzugstaktischen Motiven gesucht.

Zusammenfassend werden seit Jahren beträchtliche und kontinuierlich steigende Ressourcen verauslagt für eine Klientel, bei der eine psychische Störung im Sinne der Diagnosemanuale nicht besteht, die therapeutisch nicht erreichbar ist, die auch im Therapieverlauf kaum eine belastbare Behandlungsmotivation und Bereitschaft zur Verhaltensänderung entwickelt und bei der nach Abbruch der Behandlung eine sehr ungünstige Legalprognose besteht.  

Auftrag an die Psychiatrie?

§ 64 StGB ermöglicht die Unterbringung schuldfähiger und damit verantwortlicher Menschen, bei denen ein Zusammenhang zwischen Substanzmitteleinnahme und der Straftat festgestellt worden ist, in einer Entziehungsanstalt. Im Jahr 2019 machte die Zahl der Anordnungen gegen voll schuldfähige Täter 70 % aller angeordneten Unterbringungen in einer Entziehungsanstalt aus [7]. Ausschlaggebend sind dabei die Straftat sowie das Ziel der Verhinderung weiterer Straftaten. Die psychiatrische bzw. suchtmedizinische Behandlung dient dementsprechend dem Zweck der Kriminalprävention überwiegend verantwortlicher Täter. Zurecht wird daher kontrovers diskutiert, ob eine psychiatrische Einrichtung mit dem Auftrag der Linderung individuellen Leidens hierzu geeignet ist oder ob es letztlich eher eine Aufgabe des Justizvollzugssystems ist, das Risiko weiterer mit dem Substanzmittelkonsum korrelierender Straftaten zu mindern.

Für Menschen mit psychischen Störungen und deren Behandlung sowie für das Bild von der Psychiatrie in der Öffentlichkeit hat die Unterbringung von überwiegend schuldfähigen Straftätern mit Substanzmitteleinnahme deutliche Auswirkungen: Die Einrichtungen des Maßregelvollzugs werden überwiegend sehr hoch gesichert und prägen damit das Bild der Psychiatrie in der Öffentlichkeit. Die bei den Betroffenen häufig bestehenden dissozialen Eigenschaften bzw. die zu verhindernde Kriminalität und deren Gefährlichkeit verändern Behandlungsatmosphäre und Setting. Zum Teil öffentlichkeitswirksame Zwischenfälle schlagen auf die gesamte Psychiatrie zurück und beeinflussen das Bild von psychisch kranken Menschen in der Öffentlichkeit. Therapeuten und Leiter der Entziehungsanstalt stehen in der Doppelfunktion, einerseits Menschen mit einer psychischen Störung zu behandeln und andererseits die Öffentlichkeit zu schützen. Dieses medizinische, rechtliche und ethische Konfliktfeld wurde in den Standards für die Behandlung im Maßregelvollzug nach §§ 63 und 64 StGB [8] aufgegriffen. Die Diskussion um die Übernahme ordnungspolitischer Aufgaben wurde kontrovers diskutiert [9, 10].

Ungeachtet der kritischen Betrachtungen der Unterbringung der Entziehungsanstalt ist andererseits zu berücksichtigen, dass erfolgreich behandelte Menschen hiervon langfristig profitieren können und sowohl hinsichtlich der Sucht als auch hinsichtlich des Bewährungsverhaltens günstige Verläufe zeigen [11]. Darüber hinaus gibt es sehr wohl Menschen mit schweren Substanzmittelabhängigkeiten, die auch körperlich vom Substanzmittelkonsum gezeichnet und die auf psychiatrische Hilfe angewiesen sind. Diese Menschen begehen Straftaten, um schwerste Entzugssymptome verhindern oder zu lindern, indem sie sich mit allen Mitteln neue Substanzen beschaffen bzw. infolge ihrer kontinuierlichen Substanzmitteleinnahme zur Gefahr werden. Diesen Menschen darf psychiatrisch ärztliche Behandlung nicht vorenthalten werden. Für sie wäre ein geschützter Rahmen eines Krankenhauses zur Behandlung von abhängigen Menschen sicher hilfreich. 

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Literatur 

[1] Jacobi F, Höfler M, Strehle J et al. (2016) Erratum zu: Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul “Psychische Gesundheit” (DEGS1-MH). Der Nervenarzt 87:88-90 
[2] Jacobi F, Höfler M, Strehle J et al. (2014) Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung: Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul “Psychische Gesundheit” (DEGS1-MH). Der Nervenarzt 85:77-87 
[3] Mack S, Jacobi F, Gerschler A et al. (2014) Self-reported utilization of mental health services in the adult german population – evidence for unmet needs? Results of the DEGS1-MentalHealthModule (DEGS1-MH). International Journal of Methods in Psychiatric Research 23:189-303 
[4] Bundeskriminalamt (Hrsg.) Polizeiliche Kriminalstatistik Bundesrepublik Deutschland. Jahrbuch 2019 Band 3 Tatverdächtige 67. Ausgabe 
[5] Radtke H (2020) Bemerkungen auf der Grundlage der Rechtsprechung, in: Müller JL und Koller M (Hrsg) Reformansätze zur Unterbringung nach § 64 StGB. Der zweischneidige Erfolg der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Kohlhammer Verlag 2020, S. 57-83 
[6] Querengässer J, Bulla J, Hoffmann K, Ross T (2017) Outcomeprädiktoren forensischer Suchtbehandlungen. Eine Integration personenbezogener und nicht personenbezogener Variablen zur Behandlungsprognose des § 64 StGB. Recht & Psychiatrie 33: 34-41 
[7] Statistisches Bundesamt (2018) Strafverfolgungsstatistik, Fachserie 10 Reihe 3 
[8] Müller JL und Nedopil N (2017) Forensische Psychiatrie. Klinik, Begutachtung und Behandlung zwischen Recht und Psychiatrie. 5. überarbeitete Auflage. Stuttgart, Thieme 
[9] Pollmächer T (2013) Ordnungspolitische Funktion der Psychiatrie – Kontra. Psychiat Prax  40(06):305-306 
[10] Steinert T (2013) Ordnungspolitische Funktion der Psychiatrie – Pro. Psychiat Prax 40(06):304-305 
[11] Bezzel A. (2020) Der MRV als Brückenbauer – aus der Ergebnisqualitätsmessung Bayern. In:  Müller und Koller Reformansätze zur Unterbringung nach § 64 StGB. Der zweischneidige Erfolg der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Kohlhammer Verlag 2020, S.42-56 

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