27.11.2015 | PRESSEMITTEILUNG

Sucht als Krankheit ernst nehmen

Suchtkranke haben in Deutschland nach wie vor mit großen Vorurteilen zu kämpfen. Viele Betroffene versuchen ihre Sucht zu verbergen und verzichten dadurch auf eine frühzeitige Hilfe. Neben dem gesellschaftlichen Stigma stoßen sie zusätzlich auf Barrieren im Gesundheitswesen. Auf dem DGPPN Kongress in Berlin fordern Suchtexperten deshalb heute einen offenen Umgang mit Abhängigkeitserkrankungen und passgenaue Versorgungsangebote für Betroffene.

Sucht ist eine schwerwiegende Krankheit. Bei ihrer Entstehung spielen biologische, genetische, psychische und soziale Faktoren eine wichtige Rolle. „Eine Suchterkrankung basiert auf einer Fehlsteuerung des Belohnungssystems im Gehirn. Suchtmittel aktivieren verschiedene Botenstoffe, die zum Beispiel Wohlbefinden oder Euphorie auslösen. Dadurch lernt das Gehirn relativ schnell, ein bestimmtes Suchtmittel als positiven Reiz wahrzunehmen. Fehlt dieser Reiz, empfindet es eine Art Belohnungsdefizit – mit der Folge, dass der unkontrollierte Wunsch nach dem Suchtmittel entsteht. Sucht ist also keine Charakterschwäche, sondern eine Krankheit, die im Gehirn nachgewiesen werden kann“, erläutert Prof. Falk Kiefer, Ärztlicher Direktor der Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.

Obwohl sich die Ursachen und Mechanismen von Suchterkrankungen heute wissenschaftlich erklären lassen, sind suchtkranke Menschen gesellschaftlich immer noch stark stigmatisiert. Sie erleben immer wieder Diskriminierung – zum Beispiel bei der Suche nach Arbeit und Wohnung. Rund 36 Prozent der Bevölkerung halten Sucht für eine selbstverschuldete Krankheit. Die Folge: Suchterkrankungen werden von den Betroffenen und ihrem sozialen Umfeld totgeschwiegen. Therapeutische Interventionen erfolgen daher oft erst in einem sehr späten Stadium der Abhängigkeit.

„Doch auch das Gesundheitswesen ist noch nicht ausreichend für Abhängigkeitserkrankungen sensibilisiert. Vor allem in der primärmedizinischen Versorgung ist der Grad an Awareness verbesserungsfähig, gleichzeitig ist auch zu wenig Zeit für Diagnostik und Behandlungsplanung vorgesehen. Die kurative Therapie, die Entzugsbehandlung, die vorwiegend in spezialisierten Abteilungen der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie stattfindet, wird durch Eingriffe der Kostenträger – etwa in Bezug auf Behandlungsdauer und Therapieziele – noch nicht voll ausgeschöpft. Die gesetzlich geregelten Zuständigkeiten befördern keine leistungsfähige Vernetzungen mit dem Suchthilfesystem. Hilfeleistungen werden den Betroffenen noch zu wenig differenziert angeboten. So erhalten zum Beispiel nur rund 10 Prozent der Alkoholabhängigen pro Jahr eine rehabilitative Behandlung. Das standardmäßige Screening von Abhängigkeitserkrankungen ist in der ambulanten und stationären Versorgung immer noch nicht Realität. In der Therapie werden zwar gute Resultate erzielt, doch die öffentliche Meinung setzt Therapieerfolg meistens mit Abstinenz als Erfolgskriterium gleich und übersieht, dass diese Therapieziel aus unterschiedlichsten Gründen nicht für alle Suchtkranke geeignet ist“, stellt Dr. Heribert Fleischmann fest, stv. Leiter des DGPPN-Fachreferates für Abhängigkeitserkrankungen und Vorsitzender der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS).

Durch Ausgrenzung der Patienten und Defizite in der Versorgung entsteht für die Betroffenen und deren Familien viel Leid. Hinzu kommen hohe Folgekosten für die Gesellschaft. „Wir müssen Suchterkrankungen qualifiziert in das Gesundheitssystem integrieren und neben einem verbesserten Behandlungszugang auch einen nahtlosen Übergang in die Nachsorge sicherstellen. So genannte Stepped Care-Modelle könnten hier zukunftsweisend sein. Gleichzeitig müssen wir Suchterkrankungen noch stärker thematisieren. Dabei sind alle Berufsgruppen gefordert, die mit Suchtkranken in Kontakt kommen – und dies schon sehr frühzeitig. Durch gezieltes Fragen – zum Beispiel beim Hausarzt – lassen sich ein riskanter Konsum oder eine Abhängigkeit frühzeitig eruieren und Gegenmaßnahmen oder die Überweisung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie einleiten. Ein offensiver Umgang mit der Erkrankung trägt längerfristig auch zu deren Entstigmatisierung bei“, so DGPPN-Präsidentin Dr. Iris Hauth.

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