Rede von Prof. Dr. Volker Roelcke, Gießen
Psychiater haben in der Zeit des Nationalsozialismus Menschen verachtet, die ihnen anvertrauten Patientinnen und Patienten in ihrem Vertrauen getäuscht und belogen, die Angehörigen hingehalten, Patienten zwangssterilisieren und töten lassen und auch selber getötet. An Patienten wurde nicht zu rechtfertigende Forschung betrieben, Forschung, die Patienten schädigte oder gar tötete.
Warum haben wir so lange gebraucht, uns diesen Tatsachen zu stellen und offen mit diesem Teil unserer Geschichte umzugehen? Einerseits sind wir stolz, dass die DGPPN zu den ältesten wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften der Welt.
Im Jahr 2009, also 64 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs, hat der Vorstand DGPPN als Fachgesellschaft der deutschen Psychiater und Nervenärzte unter der Präsidentschaft von Prof. Dr. Dr. Frank Schneider sich entschlossen, sich der Frage nach der Mitverantwortung von Psychiatern an Menschenrechtsverletzungen während der Zeit des Nationalsozialismus zu stellen. Bis zu diesem Zeitpunkt dominierte auf Seiten der Gesellschaft ein Bild von der Vergangenheit, wonach das Unrecht als Solches zwar anerkannt wurde, aber als von außen (politischen Instanzen) der Berufsgruppe aufgezwungen gesehen wurde. Demnach waren auch allenfalls einige wenige, fanatische Nazis unter den Psychiatern, v.a. aus peripheren Anstalten, unter den Mitverantwortlichen, während die deutsche Psychiatrie als Ganzes selbst ein Opfer gewesen sei. Dieses Geschichtsbild spiegelt sich noch in einer Resolution der Mitgliederversammlung der Gesellschaft aus dem Jahr 1992.
Demgegenüber hat die (medizin-) historische Forschung der letzten ca. 30 Jahre sehr detailliert dokumentiert, dass ein großer Teil der Psychiater, darunter viele Universitätsprofessoren sowie der Vorsitzende der damaligen Fachgesellschaft, Prof. Dr. Ernst Rüdin, an der Planung, Organisation, praktischen Durchführung und Legitimation der Unrechtshandlungen beteiligt war. Hier lassen sich drei große „Tatkomplexe“ identifizieren:
Drei verbreitete Mythen wurden durch die historische Forschung entkräftet:
Als Konsequenz der historischen Forschung lässt sich die These formulieren, dass die Grenzüberschreitungen in der Psychiatrie zwischen 1933 und 1945 nicht spezifisch für die Zeit des Nationalsozialismus waren, sondern lediglich eine extreme Manifestation von Potentialen, die in der modernen Medizin und Psychiatrie generell angelegt sind (vgl. dazu Roelcke, „Nervenarzt“ 11/2010).
Unter diesen Voraussetzungen hat sich die DGPPN entschlossen, in einem Forschungsprojekt systematisch und detailliert die Rolle der Fachgesellschaft und insbesondere ihres Vorstands an den o.g. Tatkomplexen zu untersuchen. Zur Gewährleistung der Unabhängigkeit dieser Forschung wurde eine internationale Kommission aus vier unabhängigen Medizin- und Wissenschaftshistorikern eingesetzt, die nach ebenfalls internationaler Ausschreibung eine entsprechende Stelle besetzt hat und die Arbeiten kontinuierlich begleiten wird.
Prof. Dr. Volker Roelcke, Gießen
Vorsitzender der „Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte der DGPPN“