NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation im Familiengedächtnis – Spiegel kollektiver Verdrängung und zunehmender Erinnerung

Sigrid Falkenstein

Sehr geehrte Damen und Herren,

die heutige Gedenkveranstaltung hat eine ganz besondere Bedeutung für mich, denn meine Familiengeschichte ist auf unheilvolle Weise mit der Geschichte der deutschen Psychiatrie im letzten Jahrhundert verbunden. Wie in vielen betroffenen Familien wurden Zwangssterilisation und „Euthanasie“ auch in meiner Familie verschwiegen und verdrängt. Man kann wohl sagen, dass dies Spiegel eines kollektiven Verdrängungsprozesses der deutschen Gesellschaft insgesamt war.

Es ist und bleibt unfassbar: hunderttausendfacher, geplanter, organisierter Massenmord an kranken und behinderten Menschen, ausgeführt von denjenigen, die sie schützen, heilen und pflegen sollten. Wie konnte man das so lange verschweigen? Wie konnte man sich aus der Verantwortung dafür stehlen?

Sehr geehrter Herr Prof. Schneider, Sie haben vorhin als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) erstmals offiziell die Verantwortung der Täter benannt. Sie haben Scham und Trauer ausgedrückt und die Opfer und ihre Familien um Verzeihung gebeten für das Leid und das Unrecht, das ihnen im Namen der deutschen Psychiatrie angetan wurde. Vielleicht ist es nicht zu hoch gegriffen, dies als historischen Meilenstein zu bezeichnen! Ich danke Ihnen!

Die Opfer waren keine anonyme Masse, es waren einzelne Menschen, die ausgegrenzt, gedemütigt und am Ende vernichtet wurden. Sie alle hatten – wie meine Tante Anna - Namen und Gesicht, doch die Erinnerung an sie war jahrzehntelang ausgelöscht.

Meine Tante hat erst seit wenigen Jahren einen Platz im Familiengedächtnis. Bis 2003 kannte ich nur einige Familienfotos und wusste kaum etwas über sie. Meiner Großeltern Friedrich und Anna Lehnkering stammten beide aus bürgerlichem Milieu im Ruhrgebiet und betrieben dort eine Gaststätte. Sie hatten vier Kinder. Anna, die auch Änne genannt wurde, war die einzige Tochter. Mein Großvater starb bereits 1921, nur ein Jahr nach der Geburt meines Vaters. Anna war damals sechs Jahre alt. Man hatte mir erzählt, dass sie ebenfalls jung gestorben wäre.

So war es ein Schock, als ich 2003 per Zufall im Internet auf Annas Namen stieß. Er stand auf einer Liste von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Aktion. Meine nun folgende Spurensuche mithilfe von Annas Patientenakte aus dem Berliner Bundesarchiv ergab ein völlig neues Bild ihrer Lebensgeschichte. 1935 wurde sie auf Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ zwangssterilisiert. Die Diagnose ihrer Krankheit lautete „angeborener Schwachsinn“. Von 1936 bis 1940 war Anna Patientin in der Heil-u. Pflegeanstalt Bedburg-Hau.

In Annas Krankenblatt gibt es viele - teils in einer unsäglichen Sprache verfasste – Eintragungen, die ihren  seelischen und körperlichen Verfall dokumentieren. Am Tag ihrer Aufnahme ist sie ruhig und verträglich. Zur Untermauerung ihrer „erblichen Dummheit“  muss Anna sich einer „Intelligenzprüfung“ unterziehen. So stellt man ihr beispielsweise die merkwürdige Frage nach dem Unterschied zwischen einem Kind und einem Zwerg. Ihre rührende Antwort lautet: „Kinder gehen in die Schule und spielen. Zwerge haben Zipfelmützen auf.“

Weiterhin liest man im Krankenblatt, dass Anna in den ersten Wochen in Bedburg-Hau sehr viel weint, sie möchte nach Hause. Wer will es ihr verdenken? Dann wird sie als zunehmend schwierige Patientin beschrieben. Es heißt unter anderem: Sie „verweigert die Arbeit“, sie „hetzt andere Kranke auf“, sie ist „unsauber“ und „muss zur Ordnung angehalten werden“. Wie verräterisch Sprache sein kann, zeigen Vermerke wie „sie plärrt, sie ist läppisch“. Der Gipfel solch menschenverachtender Bemerkungen ist die Notiz, dass Anna „lästig“ sei. Am Ende ist sie schwer gezeichnet durch Mangelernährung und Tuberkulose.

Da aus der Krankenakte nicht hervorgeht, wo und wie Anna starb, ging meine Spurensuche in Bedburg-Hau weiter. Nach langem Schweigen bekam ich von dort die lapidare Auskunft, dass meine Tante am 6. März 1940 nach Grafeneck verlegt wurde, wo sie am 23. April 1940 verstarb.

Inzwischen hatte ich mich informiert. Verlegt, verstarb – welch beschönigenden Worte! Noch nicht einmal das Todesdatum stimmte! Im März 1940 kam es in Bedburg-Hau innerhalb von vier Tagen zu einer Massendeportation von mehr als 1.600 Patienten und Patientinnen, um Platz für ein Marinelazarett zu schaffen. Anna wurde zusammen mit 455 anderen Kranken nach Grafeneck deportiert, wo sie umgehend in einer als Duschraum getarnten Gaskammer ermordet wurde. Es war ein Arzt, der den Gashebel persönlich bediente.

In Grafeneck begann mit der „Aktion T4“ die systematisch-industrielle Vernichtung von Menschen, die letztlich in den Holocaust mündete.

Anna erfüllte die Selektionskriterien ihrer Mörder perfekt. Sie galt nicht nur im Sinne der NS-Rassenideologie als „unheilbar erbkrank“, sondern sie war auch „ökonomisch unbrauchbar“ und damit eine „Ballastexistenz“, eine „nutzlose Esserin“. Mit einem bloßen bürokratischen Akt, einem roten Plus im Meldebogen, wurde sie von ärztlichen Gutachtern hier in Berlin, die sie noch nicht einmal kannten, als „lebensunwert“ zur Vernichtung bestimmt. Anna wurde nur 24 Jahre alt.

Soweit die bloßen Fakten – die grauenvollen Bilder, die sich dahinter auftun, entziehen sich jeder Vorstellungskraft.

Von dieser Geschichte war nichts im Familiengedächtnis vorhanden. Es schien mir, als ob die schlimmen Geschehnisse geradezu ausgeblendet worden wären. Mein Vater erinnerte sich nur noch bruchstückhaft. Überwiegend schöne Erinnerungen an Kindheit und Jugend waren geblieben. Er erzählte mir, dass Anna eine sehr liebe und gutmütige Schwester war. Sie hatte Schwierigkeiten beim Lernen, darum ging sie zu einer Hilfsschule. Später half sie der Mutter im Geschäftshaushalt. In Bezug auf die Zeit zwischen 1936 und 1940 gab es „schwarze Löcher“ im Gedächtnis.

Vielleicht trägt ein Foto zur Erklärung bei. Es zeigt, wie mein Vater als etwa 12-jähriger Junge liebevoll und beschützend auf seine Schwester blickt. Nur wenige Jahre später, er war 16, wurde Anna von der Familie getrennt. Er war 19-jähriger Soldat, weit weg von zu Hause, als sie ermordet wurde. Er konnte ihr nicht helfen, er konnte sie nicht beschützen. Ich kann nur spekulieren, dass auch Schuld- und Schamgefühle zu den „schwarzen Löchern“ in seinem Gedächtnis geführt haben.

Weitere Erklärungen für dieses unglaubliche Nichtwissen und „Vergessen“ fand ich, nachdem ich mich mit der Geschichte der NS-Rassenhygiene befasst hatte und Zusammenhänge mit der Sippentafel der Familie herstellte. 

Die Sippentafel erfasst 24 Personen. Sie beruht größtenteils auf Denunziation und Hörensagen und ist eine Mischung aus Wahrheit und Lüge. Außer Anna werden noch drei andere Verwandte als „erblich minderwertig“ diskriminiert. Dazu gehört auch mein bereits Anfang der 20er Jahre verstorbener Großvater, der alkoholkrank war, und als „liederlich“ abgewertet wird. Die Beschreibung der Charaktereigenschaften einzelner Familienmitglieder ist aberwitzig - nicht nachvollziehbar, dass solch ein pseudowissenschaftlich getarnter Unsinn von Ärzten unterzeichnet wurde.

Egal, wie wahr oder unwahr die Eintragungen sind, unsere Familie ist - wie jede Familie – eine bunte Mischung von Individuen mit verschiedenen Anlagen, Fähigkeiten und Neigungen, deren Entwicklungen von vielfältigen äußeren Einflüssen geprägt wurden. Auf jeden Fall lässt sich anhand unserer Familie die These „erblicher Dummheit“ nicht beweisen, denn die meisten Nachkommen meiner Großeltern haben eine höhere Schulbildung oder einen Hochschulabschluss  – was sicher im Umkehrschluss auch nicht als Zeichen „erblicher Intelligenz“ zu deuten ist!

Nach dem 2. Weltkrieg war Anna kein Thema in der Familie. Vielleicht lag es daran, dass man in der schweren Nachkriegszeit andere, existenzielle Sorgen hatte. Vielleicht war die Familie - wie weite Teile der Gesellschaft - indoktriniert durch die „Lehre von der Erbgesundheit". Auf jeden Fall war sie bemüht, die Fassade einer „wohlanständigen Bürgerlichkeit“ zu wahren. Dazu passte nicht der Makel „erblicher Minderwertigkeit“. 

Meine Großmutter litt später an schweren Altersdepressionen. Es ist zu vermuten, dass das Verdrängen ihrer traumatischen familiären Erfahrungen eine große Rolle dabei spielte.

Das unvorstellbare Leid meiner Tante hat mich zutiefst berührt. Unfassbar fand ich aber auch das familiäre und gesellschaftliche Schweigen darüber. Diese Erfahrungen sind die Triebfeder für meine persönliche Erinnerungsarbeit. 
Für Anna gibt es inzwischen verschiedene Gedenkzeichen:

  • 2004 habe ich eine Internet-Gedenkseite für sie gestaltet.
  • Die Künstlerin Ulrike Oeter wurde dadurch auf Anna aufmerksam und schuf die Installation der Erinnerung „Aennes letzte Reise“. Das Kunstwerk wurde inzwischen von der Klinik in Bedburg-Hau erworben und zeigt Annas Gesicht seit 2009 stellvertretend für die anderen Opfer im Klinikmuseum.
  • Annas Schicksal hat als exemplarisches Beispiel für den Umgang mit behinderten Menschen während des Nationalsozialismus Eingang in das Geschichtsbuch „Zeiten und Menschen“ gefunden.
  • 2009 wurde unter dem Motto "Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist" ein Stolperstein für sie verlegt.

Anna hat heute einen festen Platz im Familiengedächtnis. Ich bin froh, dass meine Spurensuche in der Familie weitestgehend auf Verständnis stieß. Vor allem mein Vater stellte sich einem schmerzhaften  - hoffentlich auch für ihn „befreienden“  - Erinnerungsprozess. Am Tag der Stolpersteinverlegung bekannte er sich erstmals öffentlich zu seiner behinderten Schwester. Er starb nur wenige Wochen später. Seine an mich gerichteten Worte: „Danke für alles, was du für Änne getan hast“, bedeuten mir viel.


Der Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung der NS-Medizinverbrechen hat sicher auch mit dem Internet und seinen vielfältigen Informationen und Kommunikationsmöglichkeiten zu tun. Seitdem ich 2004 die Internetseite für Anna veröffentlicht habe, bekomme ich immer wieder Zuschriften von anderen betroffenen Angehörigen. Es gibt eine Gemeinsamkeit: Das Thema Zwangssterilisation und „Euthanasie“ wurde – und wird teilweise bis in die Gegenwart – in den Familien tabuisiert. Nicht selten spielen Scham und die Stigmatisierung als Angehörige von psychisch kranken und geistig behinderten Menschen eine Rolle. Aber mit Büchern, Internetseiten oder anderen Dokumentationen arbeiten immer mehr Angehörige ihre Familiengeschichten auf und geben den Opfern Gesicht und Namen und damit wenigstens einen Teil ihrer Persönlichkeit und Würde zurück.

Politik, Verwaltung, Justiz, Kirche, beteiligte Institutionen – auf allen gesellschaftlichen Ebenen hat man sich lange Zeit gegen das Aufarbeiten der Vergangenheit gesperrt. Das spiegelte sich auch in dem sehr geringen Interesse der Medien wider, das erst in letzter Zeit langsam zunimmt.

Um die Mauern des Schweigens  einzureißen, war sicher eine neue, unbefangenere Generation nötig, die nicht in die Geschehnisse verstrickt war. Dazu gehörten auch junge Ärzte, die etwa seit Beginn der 80er Jahre angefangen haben, unbequeme Fragen nach der Vergangenheit zu stellen und dafür nicht selten als „Nestbeschmutzer“ beschimpft wurden. Dass eine Veranstaltung wie die heutige möglich ist, hat möglicherweise auch damit zu tun, dass jene jungen Ärzte heute in verantwortlichen Positionen sind.

Inzwischen widmet man sich nicht nur in den Gedenkstätten an den Orten der „Euthanasie“-Verbrechen den Aufgaben des Gedenkens und Mahnens. In den letzten Jahren kamen verstärkt historische Forschung und Bildungsarbeit hinzu.

Es bleibt jedoch festzuhalten, dass der Anstoß für diese gesellschaftliche Erinnerungsarbeit  vor allem durch bürgerschaftliches Engagement gegeben wurde und das bleibende Verdienst kleiner, lokaler Initiativen und einzelner Menschen ist. Darunter sind nicht wenige, die heute von psychischen Krankheiten und Behinderung betroffen sind und nach wie vor erfahren, was gesellschaftliche Exklusion bedeutet.

Fast 71 Jahre nach Beginn der Krankenmorde gibt es leider immer noch Defizite in Bezug auf die deutsche Erinnerungskultur. Dabei denke ich auch an den unangemessenen Zustand des „T4“-Gedenkortes in Berlin, der ein Symbol für das Verschweigen und Vergessen ist. Zusammen mit vielen anderen Menschen setze ich mich für die Errichtung eines zentralen, nationalen Gedenk- und Dokumentationsortes am historischen Standort der Planung und Organisation der „Euthanasie“-Morde an der Tiergartenstraße ein.

In einer Zeit schwieriger medizin- und bioethischer Debatten ist ein solcher Ort wichtig – nicht nur als Ort des Gedenkens, sondern vor allem als Ort der Information. Die Geschichte lehrt uns doch, was mit einer Gesellschaft passieren kann, die Menschen zu bloßen Objekten medizinischer Möglichkeiten macht und letztendlich nur nach ihrem Nutzwert bemisst.

Ich hatte die große Ehre die Bildhauerin und Autorin Dorothea Buck kennenzulernen. Sie, die selbst als „minderwertig“ abgestempelt und zwangssterilisiert wurde, hat mir folgenden Satz mit auf den Weg gegeben: „Was nicht erinnert wird, kann jederzeit wieder geschehen, wenn die äußeren Lebensumstände sich entscheidend verschlechtern.“ In diesem Zusammenhang müssten alle Alarmglocken schrillen, wenn - wie unlängst geschehen - eugenische Thesen über sozioökonomisch wertvolles und weniger wertvolles Leben in unserem Land kursieren, und über die „erbliche Dummheit“ ganzer Bevölkerungsgruppen schwadroniert wird.

Sehr geehrte Damen und Herren, es liegt in unserer gemeinsamen Verantwortung, den Anfängen zu wehren und solchen menschenverachtenden Einstellungen entschieden entgegenzutreten! Lassen Sie uns aus der Geschichte lernen und die Erinnerung an Anna und die anderen Opfer als Orientierungshilfe nutzen bei der Gestaltung einer solidarischen, inklusiven Gesellschaft, einer Gesellschaft, die niemanden ausgrenzt und Individualität und Vielfalt der Menschen wertschätzt!

Sehr geehrter Herr Prof. Schneider, mit dem heutigen Tag hat die DGPPN ein sehr spätes, aber darum nicht weniger wichtiges  Zeichen gesetzt. Sie würdigt die Opfer und erweist ihnen und ihren Familien damit im Nachhinein Respekt und Ehre, die ihnen so lange verweigert wurden. Dafür und für das Versprechen, gemeinsam für die Achtung der Würde und Rechte aller Menschen zu arbeiten, danke ich Ihnen und allen Anwesenden, denen es mit diesem Bekenntnis ernst ist.


Sigrid Falkenstein, Berlin im November 2010