Prof. Dr. med. Michael von Cranach, DGPPN, München
Alle Psychiater, die sich mit der Geschichte des Faches während des Nationalsozialismus beschäftigt haben, mit dem Mord an über 200.000 Patienten, stellen sich die Frage: Wie konnte es passieren? Viele haben die Frage noch schmerzhafter formuliert: Wie hätte ich gehandelt, wenn ich damals Psychiater gewesen wäre? Um diese Frage auch nur annähernd zu beantworten, müssen wir uns mit den vielschichtigen Bedingungen auseinandersetzen, die dazu führten, dass ein Großteil der Psychiater aktiv oder zumindest als Mitläufer an den Aktionen beteiligt war, dass die Elite der deutschen Psychiatrie an der Planung und Durchführung beteiligt war.
Viele der Täter haben sich rechtfertigend nach dem Krieg auf eine wissenschaftliche Theorie, die Eugenik bzw. Rassenhygiene, berufen. Heute wissen wir, dass diese, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spielte. Die Selektion der Patienten erfolgte primär aus ökonomischen Gründen, die Arbeitsfähigkeit war das Kriterium, um „lebenswert“ und „lebensunwert“ zu unterscheiden. Hinzu kam eine extreme Hierarchisierung der Gesellschaft und insbesondere der medizinischen Strukturen, die den Einzelnen seines Gewissens enthob. Damals unterschieden die Ärzte auch zwischen „heilbaren“ und „unheilbaren“ Patienten, vielleicht ermordeten sie ihre Patienten auch, um nicht mit ihrem Versagen konfrontiert zu werden. Die „Volksgesundheit“ vor Augen, verloren sie den einzelnen Menschen aus ihrem Blickfeld. In der extrem autoritären Arzt-Patienten Beziehung stand die Behandlung der Krankheit und nicht die Behandlung des Kranken im Vordergrund. Karrieredenken und das Gefühl, an einem einmaligen Experiment beteiligt zu sein, sind sicher weitere Faktoren im komplexen Bedingungsgefüge ihres Handelns.
Wir lernen daraus, dass Gegenstand ärztlichen Handelns ausschließlich das Wohl und die Bedürfnisse des einzelnen Kranken sein kann, dass wir unsere Beziehung zum Kranken partnerschaftlich gestalten sollen und dass wir in allen unseren Entscheidungen ausnahmslos persönlich verantwortlich sind. Die Sorge um die Schwerstkranken sollte im Vordergrund unserer Bemühungen stehen.
Vielerorts sind Mahnmale und Gedenkorte entstanden, es fehlt jedoch ein zentraler Gedenkort. Die langjährige Diskussion um die Gestaltung eines solchen Ortes in Berlin sollte rasch beendet und eine Entscheidung getroffen werden.
Bis in die 80er Jahre hinein sind Angehörige, die sich nach ihren ermordeten Familienmitgliedern erkundigen wollten, von den Klinikdirektoren häufig abweisend und oft auch falsch informiert worden. Dort, wo in der Öffentlichkeit allmählich bekannt wurde, dass die Psychiatrie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt, begannen Angehörige erneut oder erstmalig Erkundigungsbriefe an die Kliniken zu schreiben. Diesmal bekamen sie ausführlich Auskunft, es kam oft zu persönlichen Begegnungen. Aus den Gesprächen wurde deutlich, wie schwer vielen dieser Schritt gefallen war. Unsicherheiten in der rechtlichen und ethischen Bewertung der Tötungen, Angst vor der Stigmatisierung, Scham und Schuld, damals nicht richtig gehandelt zu haben konnten in diesen Gesprächen geklärt und überwunden werden.
Wir möchten Kinder, Enkel und auch weitere Angehörige ermutigen, mit der Klinik, in der ihr Verwandter ermordet oder von der er verlegt wurde, Kontakt aufzunehmen. Sie werden die erwünschte Information bekommen sowie eine verständnisvolle Begegnung.