An im Nationalsozialismus verfolgte Psychiater erinnern

Rede von Prof. Dr. Ephraim Bental, Haifa (Israel)
Sohn eines emigrierten Psychiaters

ich bin Sohn eines Neuropsychiaters, der gezwungen war, 1933 infolge der Nazi-Rassengesetze, plötzlich eine erfolgreiche medizinische Karriere in Deutschland aufgeben zu müssen. Ich war voller Erwartung, um vor diesem Plenum, vor Ihnen zu sprechen. Die Gedenkveranstaltung, an der Sie alle heute teilnehmen, ist ein wichtiger Meilenstein in der Aufarbeitung der Geschichte der deutschen Psychiatrie.

Leider kann ich, der ich selbst Psychiater bin, aus gesundheitlichen Gründen nicht persönlich an dem Kongress teilnehmen, und bin gezwungen, Ihnen meine Worte per Video zu übersenden. Diese Ansprache ist dem Andenken an meinen Vater, Dr. Kurt Blumenthal-Bental, und all denjenigen Psychiatern gewidmet, die ab 1933 gezwungen waren, plötzlich und unvermittelt, eine erfolgreiche medizinische Karriere und ein Leben in Deutschland aufzugeben, um in Palästina, unter schwersten Bedingungen eine neue Laufbahn zu beginnen und ein neues Leben aufzubauen. Über 40 Psychiater, viele von ihnen in Deutschland in leitenden Posten tätig, wanderten damals nach Palästina/Israel aus.

Mein Vater Dr. Kurt Blumenthal, der seinen Namen in Israel 1949, zu Bental hebraïsierte, wurde 1893 in Berlin geboren. Im Geiste der jüdischen Assimilation, des Liberalismus und der Aufklärung, die seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Europa herrschten, wurde er erzogen und erhielt eine klassische deutsche Bildung mit Griechisch, Latein und Französisch sowie gründlichen Kenntnissen der deutschen und europäischen Literatur und Poesie. 1912 begann er sein Medizinstudium in Berlin, welches er unterbrach um als Medizinaloffizier im ersten Weltkrieg zu dienen. Nach Ende des Krieges beendete er sein Medizinstudium an der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock und erhielt dort 1920 den Doktortitel verliehen. Seine Arbeit hatte den Titel:

„Psychosen bei Hydrocephalus, Meningitis serosa, Hirnschwellung und Pseudotumor“

Seine Fachausbildung absolvierte er an der Nervenklinik Rostock-Gelsheim unter der Leitung von Prof. Dr. Kleist, wo er bis Anfang 1923 arbeitete. Danach zog die junge Familie – Frau und Tochter – nach Dessau, wo er eine Neuropsychiatrische Praxis gründete und als Konsiliarius an der Psychiatrischen Klinik des Diakonissenheimes amtierte.

Nach der schweren Nachkriegszeit fühlten sich meine Eltern als aufgeklärte Deutsche, die beim Aufbau einer demokratischen und gerechten Gesellschaft mitwirken wollten. Wir drei Kinder wurden im Geiste der Assimilation, im Glauben an den Frieden und an das Gute im Menschen erzogen, nicht bewusst dass wir Juden waren. Die Weltanschauung unserer Eltern hat sich jedoch, angesichts der antisemitischen Ausbrüche in Dessau zu Beginn der dreißiger Jahre, als die Nazibewegung stärker wurde, grundsätzlich verändert. Die Ideale und Hoffnungen an die unsere Eltern geglaubt hatten, brachen zusammen.

So kam es dass der Klassenlehrer in meiner Schule alle Schüler um eine Geldspende bat, um ein Hitlerbild zu kaufen und in der Klasse aufzuhängen. Als ich als einziger Jude und auf meiner Eltern Anweisung hin keine Geldspende abgab, wurde ich von den Kindern der Klasse als Jude verpönt und verspottet. Meine Mutter versuchte mir, dem achtjährigem Jungen, zu erklären was der Begriff Jude bedeutet. Von da an ging ich nicht mehr in diese Schule sondern wurde in die jüdische Schule in der Klopstockstraße in Berlin umgeschult. Eine meiner meist erschütterndsten Erinnerungen ist, wie ich, am ersten April 1933, als achtjähriger Knabe gemeinsam mit meiner Schwester und unseren Eltern am Fenster der Praxis meines Vaters in der Antoinettenstraße 24 in Dessau stand und sah, wie auf der Straße vor dem Hauseingang, SA-Männer standen, mit großen Schildern auf denen geschrieben war:

DEUTSCHE! WEHRT EUCH!

GEHT NICHT ZU JÜDISCHEN ÄRZTEN!

Dieser Moment gab den Ausschlag, in dem meine Eltern ihren Beschluss fassten, der fortan unser Leben prägen sollte: „In einem Land, wo wir nicht gewollt sind, bleiben wir nicht."

Die Laufbahn eines erfolgreichen jungen Psychiaters in Dessau, wurde in diesem Moment beendet. Auf der Suche nach einem Land, in dem sie Zuflucht finden könnten, fiel die endgültige Wahl unserer Eltern auf Palästina/Israel. Gemäß ihrem Beschluss landeten sie schon Ende Juli 1933, erst einmal allein in Haifa-Palästina, um dort, unter äußerst schwierigen Bedingungen zu versuchen, Fuß zu fassen, eine neue Existenz zu erschaffen, und aufs Neue eine psychiatrische Praxis aufzubauen – in einem Land dessen Sprache sie nicht kannten, dessen Lebensbedingungen schwierig und ihnen völlig fremd waren. Wir Kinder, die wir nachkamen, erhielten neue Namen: Ich wurde von Werni auf Ephraim umbenannt, meine ältere Schwester von Evi auf Chawa und mein jüngerer Bruder von Klausi auf Benjamin.

Die Umstellung war für unsere Eltern äußerst schwierig, aber wir Kinder waren dessen nicht so bewusst. Ich hatte Sprachschwierigkeiten, auf der Schule wurde ja nur Hebräisch gesprochen. Die Fähigkeit unseres Vaters mit Mut und starken Willen in die Zukunft zu schauen, ohne das Vergangene zu bedauern, brachte er kurz vor seiner Abreise, mit einer Eintragung von Worten Friedrich Nietzsches, im Poesiealbum meiner Schwester am ersten Juli 1933, zum Ausdruck:

„Kinder, lasset die Köpfe nicht so herabhängen! Machet den alten Zarathustra nicht lachen! Ist es denn ein Unglück, dass ihr in frische, stürmische, brausende Zeiten hinein geboren seid? Ist denn das nicht euer Glück?“

Und so, langsam unter großen Schwierigkeiten, gelang es meinen Eltern in Haifa das Fundament für eine zukünftige psychiatrische Klinik zu legen. Meines Vaters Standhaftigkeit, seine Ausdauer und auch seine Zweifel, kamen in seinem Tagebuch oft zum Ausdruck, wie zum Beispiel in der folgenden Eintragungen vom 24. Januar 1934:

„Ich habe im Hause jetzt 8 Patienten. Die Sprechstunde war im Dezember ruhiger, aber der Januar wird schon besser. Leider haben wir keine richtige Nachtruhe, da wir uns natürlich keine Nachtschwester leisten können.“

Am 6. Februar 1934 schreibt er: „Die Praxis im Januar war gut, ca. 20 Pfund. Auch das Haus war gut belegt, sodass wir unseren Etat schon balanciert haben. Aber Erna und ich trauen dem Frieden nicht. Seit drei Tagen ist das Haus unterbelegt, und kostet mehr als es bringt, denn wir haben jetzt einen ziemlich großen Apparat: eine Schwester und drei Mann Personal.“

(Die Schwester war Edith Katz, diplomierte Krankenschwester, ehemalig am jüdischen Krankenhaus in Kassel, arbeitete in der Klinik später als Oberschwester bis zu ihrer Pensionierung in 1963)

Und am 8. April 1934: „Das Haus ist gut belegt: 8 Patienten. Aber das trägt unsere Existenz noch nicht. Die Sprechstundenpraxis hat sich nicht weiter entwickelt. Jeder Tag ohne Patientenzugang ist zermürbend.“

Ohne klare Absichten oder Vorplanung am Anfang, entwickelte sich im Laufe der Zeit das kleine Krankenhaus in eine, für damalige Verhältnisse, große und moderne Psychiatrische Klinik mit 50 Betten, die ab 1937 in ein neu gebautes, passenderes Gebäude auf dem Karmel in Haifa umzog. Das Haus war nun als einzige zentrale psychiatrische Klinik des ganzen Nordens anerkannt. Vater war der medizinische Leiter der Klinik, mit ihm arbeiteten fünf Ärzte, sowie Pflegepersonal und Hilfskräfte. Mutter war die wirtschaftliche Leiterin.

Die Familie wohnte im Haus, sodass ich von Jugend her meine ersten psychiatrischen Erfahrungen bei den gemeinsamen Familienmahlzeiten mit Vater sammelte. Unter der Leitung meines Vaters wurden in der Klinik alle damals modernen Behandlungen eingeführt, so wie sie in der damaligen medizinischen Literatur beschrieben waren. Besonders erwähnt seien:

  1. Malariabehandlung für Progressive Paralyse (damals noch vorkommend)
  2. Insulinschocktherapie (eingeführt 1937 in der Klinik von Dr. Rudi Meier, den Dr. Blumenthal aus der Schweiz aufforderte in der Klinik zu arbeiten)
  3. Cardiazolschockbehandlung
  4. Elektrokrampfbehandlung (mit selbst gebautem Apparat auf Bestellung meines Vaters bei einem Elektroingenieur, gemäß den Angaben von Ugo Cerletti und Lucio Bini von 1940, die damals in der medizinischen Literatur veröffentlicht wurden.*)
  5. Largactilbehandlung für akute Psychosen (ab 1952)
  6. Leukotomien (empfohlen gemäß dem damaligen Stand der Literatur) 

*Zur Geschichte des selbstgebauten Elektrokrampfapparates möchte ich zwei Anekdoten erzählen:

Um die Verlässlichkeit des Apparates zu prüfen, wurde eine Katze auf einem Brett auf dem Sprechstundenschreibtisch meines Vaters fixiert und die Elektroden an den Kopf angelegt. Der Strom wurde eingeschaltet, die Katze bekam einen Schock und sprang danach sofort durchs Fenster aus dem 2. Stock, gesund und munter. Damit war der Apparat als gebrauchsfähig für Menschen erklärt und wurde eingesetzt. Dieser Apparat hat auch dazu beigetragen dass der Libanon Anfang 1945 Deutschland den Krieg erklärt hat. Der damalige Präsident des Libanons war Patient meines Vaters und litt an schweren Depressionen, welche nur auf Elektrokrampfbehandlung reagierten. Die französische Regierung, die das Mandat über den Libanon hatte, wollte, dass der Libanon Deutschland den Krieg erkläre, um damit das Recht in der Mitgliedschaft der UNO zu erhalten. Solch eine Kriegserklärung musste der Präsident persönlich unterschreiben, aber er war schwerst depressiv und wollte von nichts etwas wissen. Mein Vater wurde also dringend in den Libanon gerufen, um eine Elektrokrampfbehandlung durchzuführen. Nach drei Behandlungen erholte sich der Präsident und unterzeichnete die Kriegserklärung. Zum Dank versprach er, meinem Vater jeglichen Wunsch zu erfüllen. Im Mai 1946 erfuhr mein Vater dass seine geliebte Tante Martha vom KZ Theresienstadt nach Berlin zurückgekehrt sei. Da es keine Möglichkeit gab ein Einwanderungsvisum nach Palästina zu erhalten, bat nun mein Vater den Libanesischen Präsidenten um ein Einreisevisum für Tante Martha in den Libanon. Der Präsident hielt sein Versprechen und Tante Martha bekam das Visum. Sie kam auf Umwegen nach Haifa, wo sie noch viele glückliche Jahre im Kreise der Familie lebte.

Vater leitete die Klinik bis 1964, bis sie dann die Angestellten als Kooperative übernahmen. Bis 1973 arbeitete er noch als psychiatrischer Berater an der Klinik weiter.

Mein Vater gehörte zu der Klasse der Neuropsychiater, wie sie in der damaligen Zeit gang und gäbe waren. Da ich in einer psychiatrischen Klinik aufgewachsen bin, war es selbstverständlich, dass ich in die Fußtapfen meines Vaters trat. Ich begann mein Medizinstudium an der Medizinischen Fakultät Bern und beendete es an der Hebräischen Universität in Jerusalem, wo ich 1954 den Doktortitel der Medizin erhielt, und an der Neurologischen Abteilung des Hadassah Universitätskrankenhauses Jerusalem absolvierte ich meine Fachausbildung in Neurologie und Psychiatrie. Als Professor an der Medizinischen Fakultät des Technions in Haifa leitete ich die Neurologische Abteilung des Rambamkrankenhauses bis 1991.

So gehöre ich heute noch zu den wenigen Neuropsychiatern. Dies habe ich hauptsächlich meinem seligen Vater zu verdanken. Die „Vertreibung“ aus Deutschland hat dazu beigetragen dass unsere Eltern mit gutem Willen und viel Ausdauer eine hervorragende moderne Psychiatrische Klinik in Israel gründeten und leiteten.

Persönlich haben meine Eltern und wir Kinder, als Folge der traurigen Geschehnisse, unseren Rückweg zum Judentum gefunden.

Die Generation der emigrierten Psychiatern, die einen wichtigen und ehrenvollen Anteil an der Entwicklung der modernen Psychiatrie in Israel hat, hat es trotz enormer Anfangsschwierigkeiten verstanden sich an die besonderen Umstände des Landes anzupassen. Ihnen ist zu verdanken dass eine fortgeschrittene Psychiatrie im Lande eingeführt wurde und noch heute gelehrt und praktiziert wird. Möge diese Veranstaltung und mein kleiner Beitrag dazu, eine ehrenvolle Erinnerung an all die Psychiater sein, die auf Grund der Naziverfolgungen gezwungen waren, Deutschland zu verlassen. Sie haben einen großen Anteil am Aufbau einer modernen Psychiatrie in Israel.