Kapitel 1: „Fotoalbum“
Am Anfang der Ausstellung stehen Fotografien, wie man sie normalerweise in Familienalben findet: Sie zeigen Opfer der NS-„Euthanasie“-Morde und der Zwangssterilisationen. Bevor sie in Anstalten eingewiesen wurden, lebten sie in ihren Familien, hatten Freunde oder Kollegen. Nicht immer kennen die Nachfahren heute ihre Geschichte. Über viele der Toten wurde später auch in ihren Familien geschwiegen.
Benjamin Traub, geboren 1914 in Mülheim/ Ruhr, ermordet 1941 in Hadamar, Foto: Privatbesitz
Irmgard Heiss, geboren 1897 in Münster, Hausfrau, stirbt 1944 an den Folgen des jahrelangen Aufenthaltes in der Hungeranstalt Weilmünster im Lindenhaus/ Lemgo, Foto: Familienarchiv Stellbrink
David Föll, geboren 1858, Schreiner in Schwäbisch Hall, ermordet 1940 in Grafeneck, Foto: Landesarchiv Baden-Württemberg, StAL F234 VI Nr. 519018
Ihnen gegenüber zeigt das „Fotoalbum“ Fotografien von Tätern und Tatbeteiligten: Ärzte, Krankenschwestern, Fahrer, „Leichenbrenner“ und Verwaltungskräfte, die am Patientenmord mitwirkten. Auch sie sind überwiegend in privaten Situationen zu sehen - wie in einem familiären Fotoalbum. Viele von ihnen verblieben nach 1945 in ihren Funktionen.
Die Abteilung führt mit Zitaten in die Ideengeschichte von Zwangsterilisationen und „Euthanasie“ ein. Im Zentrum stand der Gedanke, man könne einen Wert menschlichen Lebens bemessen, der höher oder niedriger sein könne. Die Eugenik ging von der Vorstellung aus, Fortpflanzung müsse gesteuert werden, um den erbbiologischen Niedergang einer Nation aufzuhalten und die menschliche Höherentwicklung voranzutreiben. Gezeigt werden Ausschnitte aus Lichtbildreihen aus den 1920er und 1930er Jahren, mit denen diese Ideen in der Öffentlichkeit propagiert wurden, sowie Ausschnitte aus einer Lichtbildreihe, die den Fortschrittsoptimismus der damaligen Psychiatrie zur Anschauung bringen sollte.
Nach 1933 wurde die Rassenhygiene in Deutschland zum politischen Programm: Die Sozial- und Gesundheitspolitik sollte sich am „Erbwert“ des Menschen orientieren. Dokumente und Abbildungen beschäftigen sich mit dem Versuch, die gesamte Bevölkerung „erbbiologisch“ zu erfassen und mit der zwangsweisen Sterilisation von bis zu 400 000 Menschen im Nationalsozialismus.
Zeichnungen: Wilhelm Werner, Inv. Nr. 8083 (2008) fol. 20, 25, 26
Universitätsklinikum Heidelberg, Sammlung Prinzhorn
Eindrückliches Zeugnis sind die Zeichnungen, die der zwangssterilisierte und später ermordete Wilhelm Werner hinterlassen hat. Sie bringen zum Ausdruck, was dieser fundamentale Angriff auf Körper und Persönlichkeit für ihn bedeutete.
Im Herbst 1939 begann die systematische Erfassung und im Januar 1940 die Ermordung kranker und behinderter Menschen. Bis zu 300 000 Anstaltspatienten fielen ihr zum Opfer. Die größte Abteilung der Ausstellung stellt Täter und Tatbeteiligte vor und fragt nach ihren Handlungsspielräumen, aber auch nach der öffentlichen Wahrnehmung der Morde, nach den Reaktionen der Kirchen und nach den Familien der Opfer.
Foto: Archiv der Stiftung Liebenau
Die Lebensgeschichten von Opfern der Patientenmorde stehen im Mittelpunkt der Ausstellungserzählung. Fotos und Dokumente aus ihrem Privat- und Familienleben werden gezeigt und vermitteln ein Bild ihrer Persönlichkeit. Dokumente aus den Krankenakten der Opfer zeigen, wie viel verschiedene Akteure an den Verbrechen beteiligt waren.
Zwangssterilisierte, Überlebende der Mordanstalten und Angehörige ermordeter Patienten fanden nach 1945 wenig gesellschaftliche Unterstützung. Erst in den 1980er-Jahren begann die öffentliche Erinnerung an diese Opfer. Die letzte Abteilung gibt Einblick in Nachkriegsprozesse und in den Kampf um die Anerkennung als Verfolgte des NS-Regimes und um Entschädigung.
Die historische Erzählung der Ausstellung endet, wie sie begann: mit Familienbildern. Der Maler Gerhard Richter porträtierte in den 1960er Jahren, ohne sich dessen bewusst zu sein, mit seiner Tante Marianne ein Opfer und mit seinem Schwiegervater Heinrich Eufinger einen Täter der Medizinverbrechen. Erst in den letzten Jahren begannen viele Familien, sich ihrer ermordeten und vergessenen Angehörigen zu erinnern.