07.03.2022 | Positionspapier des DGPPN-Referats „Psychotherapie“

Selbsterfahrung in der Weiterbildung zum Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie

Die Selbsterfahrung (SE) ist ein zentraler Baustein in der Weiterbildung zur Fachärztin oder zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Das Positionspapier stellt aus Sicht des DGPPN-Referats „Psychotherapie“ die Ziele und Methoden der SE dar und gibt Empfehlungen für die Umsetzung in der Weiterbildungspraxis.

Zusammenfassung

Die SE hat in der psychodynamischen Therapie folgende Ziele:  
(a) Erlernen therapeutischer Techniken und Methoden  
(b) Erlernen grundsätzlicher Interaktionskompetenzen 
(c) Persönlichkeitsreifung und Entwicklung selbstreflexiver Kompetenzen des Therapeuten.  
In der psychodynamisch orientierten Psychotherapie ist die SE ein essenzieller, nicht wegzudenkender Bestandteil der Aus- und Weiterbildung. Die von der Weiterbildungsordnung für Ärzte vorgesehene Umfang von etwa 150 Stunden SE in Einzel- und Gruppenform hat sich nach Auffassung der psychodynamischen Fachvertreter bewährt. 

Die SE hat in der Verhaltenstherapie folgende Ziele: 
(a) Reaktion auf Psychopathologie und psychische Störungen 
(b) Empathie und Verstehen des Erlebens des Patienten  
(c) Erlernen einer komplementären Beziehungsgestaltung 
(d) Erlernen einer interventionsadäquaten Beziehungsgestaltung 
(e) Selbsteinbringung im Modelllernen  
(f) Erkennen eigener idiosynkratischer Reaktionstendenzen  
(g) Erlernen sozialer Kompetenz 

Selbsterfahrung in der VT muss therapeutische und interaktionellen Kompetenzen vermitteln, soweit sie therapiedienlich sind und nicht eine unspezifische Persönlichkeitsreifung. Die Ausbildungsziele sollten in einem halben Jahr mit 20 Stunden Einzel-SE und einem weiteren halben Jahr mit 30 Stunden Gruppen-SE erreichbar sein. 

1. Vorbemerkung
Die DGPPN ist als wissenschaftliche Fachgesellschaft auch der wissenschaftlichen Fundierung der Weiterbildung zum Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie verpflichtet und bietet Unterstützung bei der Durchführung der Weiterbildung.

Ein Baustein der Weiterbildung in der Weiterbildung ist die Selbsterfahrung (SE). Im Folgenden sollen aus Sicht des Referats „Psychotherapie“ der DGPPN die Ziele und Methoden der SE dargestellt und diskutiert werden und Empfehlungen für die Umsetzung in der Weiterbildungspraxis gegeben werden. Im Referat „Psychotherapie” der DGPPN sind Vertreter aller Psychotherapieverfahren, Weiterbildungsbefugte, Weiterbildungsteilnehmer, fachpolitisch Verantwortliche, Vertreter von Ausbildungsinstituten und alle einschlägigen Berufsgruppen vertreten. 

2. Hintergrund
Psychotherapie ist die Interaktion eines Therapeuten mit einem oder mehreren Patienten zum Zwecke der Linderung von Krankheit, und ist abzugrenzen von Erziehung und Erziehungsberatung, Eheberatung, Coaching oder sonstigen hilfreichen Interaktionen. Psychotherapie verlangt seitens des Therapeuten professionelle Kenntnisse und Kompetenzen, wozu unter anderem auch die Fähigkeit zur Selbststeuerung und einer zielführenden Beziehungsgestaltung und Interaktion gehört.

In der Frühzeit der Psychotherapie im 19. Jahrhunderts wurde von Therapeuten eine eher pädagogisch-psychoedukative Haltung erwartet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dann im Rahmen der Psychoanalyse und der daraus abgeleiteten psychodynamischen Psychotherapie eine Übertragungs-/Gegenübertragungsbeziehung konzeptualisiert, die eine Analyse und Bearbeitung früh angelegter Beziehungs- und Konfliktmuster sowie persönlichkeitsstruktureller Aspekte in der therapeutischen Interaktion ermöglichen sollte. Das technische Vorgehen war dabei zunächst von den Paradigmen der strikten Abstinenz und Neutralität gekennzeichnet, die sich im Laufe der Entwicklung psychodynamischer Verfahren differenzierten. 

Im Weiteren wurden sog. humanistische Therapieansätze entwickelt, wozu die klientenzentrierte Psychotherapie, die Gestalttherapie oder das Psychodrama gezählt werden, deren Axiom ist, eine Persönlichkeitsreifung zu ermöglichen durch eine warmherzige, unkonditional akzeptierende und zugewandte Haltung, ergänzt durch eine Analyse von Differenzen zwischen Real- und Ideal-Selbstbild. Angestrebt wird hier ein hohes Ausmaß an Selbstexploration des Patienten auf der einen und der Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte durch den Therapeuten auf der anderen Seite.

Ab den 50iger Jahren entwickelte sich dann die Verhaltenstherapie. Hier hat der Therapeut eine eher anleitende Rolle, er verhilft dem Patienten zu einer Verhaltensbeschreibung und Kontingenzanalyse, um dann auf der kognitiven, emotionalen oder Verhaltensebene neue Kompetenzen zu vermitteln. 

Diese kursorische Übersicht zeigt, dass es je nach Verfahren und ggf. auch in Abhängigkeit von der primär zu behandelnden psychischen Störung durchaus unterschiedliche Interaktionsanforderungen gibt und dass Therapeuten für die Applikation ihrer Techniken und Methoden teils übergeordnet, teils verfahrensabhängig in ihrer Ausbildung unterschiedliche Kenntnisse und interaktionelle Kompetenzen benötigen. Dies erfordert dann ggf. auch unterschiedliche Ausbildungsgänge und -formen, unabhängig davon, dass es auch einige verfahrensübergreifende Kompetenzen gibt.

Ein Ausbildungselement, das ursprünglich in der Psychoanalyse entwickelt wurde, ist die „Lehranalyse“, die im Weiteren dann unter dem Begriff der „Selbsterfahrung (SE)“ weiter ausdifferenziert wurde. Im englischen Sprachraum wird von mandatory personal psychotherapy gesprochen (Murphy et al., 2018). SE ist in der psychodynamischen Psychotherapie von Beginn an ein integraler Bestandteil der Psychotherapieaus- und -weiterbildung. In der psychodynamischen Selbsterfahrung geht es u. a. darum, aus der Perspektive der Patientenrolle zu lernen, wie man in einer Übertragungs-/Gegenübertragungskonstellation frühe Beziehungs- und Konfliktmuster bearbeiten kann und dient damit unmittelbar der Vermittlung von therapeutischen Kompetenzen. Andererseits dient dieser Ansatz aber auch dazu, die eigene Persönlichkeitsentwicklung zu hinterfragen, die Selbstreflexionsfähigkeit und Identifikation sog. „blinder Flecken“ in der Entwicklungsgeschichte und im Selbstkonzept zu bessern, soweit sie die späteren Behandlungen und die Kontrolle von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen beeinflussen könnten. In den psychodynamischen Verfahren ist SE im klassischen Sinne bis auf den heutigen Tag als „Lehranalyse“ und damit als Instrument zum Erlernen des therapeutischen Prozesses zu verstehen, aber auch als Selbsttherapie. Sie kann in Einzel- und/oder Gruppenselbsterfahrung durchgeführt werden.

In der Verhaltenstherapie gehört SE nicht zu den konstituierenden Elementen, was international bis heute gilt. Der Erwerb therapeutischer Kompetenzen findet primär in der (band- oder videogestützten) Fallsupervision statt, was auch eine Beobachtung und Modifikation des emotionalen und interaktionellen Therapeutenverhaltens ermöglicht. 

Die Übernahme der SE in die verhaltenstherapeutische Aus- und Weiterbildung erfolgte in Deutschland als die Verhaltenstherapie 1987 in die Psychotherapierichtlinie aufgenommen wurde. In Absprache mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung wurden durch eine Arbeitsgruppe des FKV (Fachverband Klinische Verhaltenstherapie, heute Deutscher Fachverband für Verhaltenstherapie, DVT) Mindestvoraussetzungen für die verhaltenstherapeutische Therapeutenaus- und -weiterbildung definiert. Als Vorlage dienten aus formalen und berufspolitischen Gründen die Anforderungen für die Psychoanalyse. 

Damit wurde auch für Verhaltenstherapeuten eine Selbsterfahrung zum verpflichtenden Teil der Psychotherapieausbildung. Im internationalen Vergleich ist dies eine deutsche Besonderheit. Inhaltlich sollte das Ziel der SE in der VT sein, eine Rückmeldung darüber zu bekommen, wie man auf andere Menschen wirkt, wie man selbst auf bestimmte Menschen oder Störungstypen reagiert und wie man sich in der Patientenrolle fühlt, wenn man sich offenbaren soll oder auch mit therapeutischen Anforderungen konfrontiert ist, was sich wesentlich von dem psychodynamischen Konzept der Lehranalyse unterscheidet.  
Die SE wurde dann auch in die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Psychologische Psychotherapeuten bzw. zukünftig die Weiterbildung von „Psychotherapeuten“ übernommen. Die Ärztekammern verlangen SE in den Weiterbildungsordnungen für den Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, die Zusatzweiterbildung Psychotherapie, die Zusatzweiterbildung Psychoanalyse und die Zusatzweiterbildung Sexualmedizin. Die jeweils vorgeschriebenen Stundenumfänge variieren erheblich.  

Für Selbsterfahrungsleiter in der ärztlichen Weiterbildung wird eine in einem der Hauptverfahren abgeschlossene psychotherapeutische Weiterbildung, d. h. eine einschlägige Facharztqualifikation und danach noch eine mehrjährige berufliche Praxis gefordert.  
Im Psychotherapeutengesetz, das nur für Psychologische Psychotherapeuten verbindlich ist, wird für Selbsterfahrungsleiter eine mindestens fünfjährige psychotherapeutische Tätigkeit nach der Approbation, eine mindestens dreijährige Tätigkeit an einer Ausbildungsstätte und die persönliche Eignung verlangt, ohne dass das zuletzt genannte Merkmal spezifiziert ist. Die Mehrzahl der Selbsterfahrungsleiter für Psychologische Psychotherapeuten sind in psychotherapeutischen Ausbildungsinstituten organisiert und bieten die SE häufig im Rahmen umfassenderer Curricula an. 
Befragungen von Ausbildungskandidaten berichten regelhaft über positive Einstellungen gegenüber Selbsterfahrung, wobei Verhaltenstherapeuten geringere Zufriedenheitswerte zeigten. Dennoch meinten auch in der VT 87 %, dass SE erhalten bleiben sollte, 65 % waren der Auffassung, der Umfang der Selbsterfahrung sollte gleichbleiben, 23 % wünschten sogar eine Erhöhung des Anteils (Glaesmer et al 2009, Egunjobi et al 2021, Strauß & Taeger 2021, Sedlacek & Sulz 2019).  
Von den Lehrkräften der Institute (Kohl et al., 2009) wird die Einzel- und Gruppenselbsterfahrung als integraler Bestandteil der Psychotherapieausbildung betrachtet und eher als zu gering angesehen. Auch andere Studien belegen diese positive Einschätzung (Bayer, 2007). Da die Ausbildungsbedingungen insgesamt für die Teilnehmer eine Belastung darstellen, kann die SE auch zur sog. „Burn-out-Prophylaxe“ genutzt werden (Ruggaber 2005).
 

Andererseits wird Selbsterfahrung aber auch immer wieder kritisiert. Das Konzept der Selbsterfahrung kommt ursprünglich aus der Psychoanalyse, so dass sich insbesondere aus verhaltenstherapeutischer Sicht die Frage stellt, ob hier nicht verfahrensfremde Bestandteile in die VT eingebracht werden (z.B. Sartory, 2009; Laireiter, 2000, Laireiter & Willutzki 2005). Darüber hinaus gibt es auch grundsätzliche Fragen nach den Zielen der Selbsterfahrung, der Methodik (Chigwedere et al., 2021), den Nebenwirkungen, interpersonellen Abhängigkeiten, der empirischen Basis oder sogar ethischen Grenzen (Herrmann, 2018). 

Es ist letztlich ungeklärt: 

  • wie technisch vorzugehen ist, 
  • ob SE im Einzel- und/oder Gruppensetting durchzuführen ist,  
  • ob die gesamte SE bei einem Selbsterfahrungsleiter durchzuführen ist, oder eher bei mehreren Selbsterfahrungsleitern (u. U. sogar unterschiedlicher theoretischer Ausrichtung) um verschiedene Problem- und Interaktionsstile kennenlernen zu können. 
  • welche Qualifikation des SE-Leiters unabdingbar ist 
  • wie die Qualität zu sichern ist 
  • wer die Verantwortung für die Anerkennung der SE trägt 
  • welche Aufsichtsfunktion den Kammern zukommt 
  • was die Wirkungen sind 
  • was die Dosis-Wirkungsbeziehung ist 
  • mit welchen Nebenwirkungen zu rechnen ist und wie diesen vorzubeugen ist 
  • inwieweit im Rahmen einer Berufsausbildung aus ethischen Gründen in die Persönlichkeit eines Kandidaten eingegriffen werden darf und ob eine Einwilligung zwingend verlangt werden darf, bzw. was geschieht, wenn diese nicht gegeben wird. 
  • was zeitlich und finanziell zumutbar und umsetzbar ist 
     

Im Folgenden wird SE primär aus der Perspektive der psychodynamischen Psychotherapie und der Verhaltenstherapie dargestellt, den beiden Hauptverfahren in der Psychotherapeutenaus- und -weiterbildung in Deutschland. 

Bei der Erarbeitung dieses Positionspapiers zeigten sich aus psychodynamischer und verhaltenstherapeutischer Sicht sehr unterschiedliche Auffassungen, so dass im Weiteren SE getrennt für beide Verfahren dargestellt wird.

3. Empirische Forschung zur Selbsterfahrung

In der neueren Forschung haben sich die Bezüge zur Selbsterfahrung bzw. „Eigentherapie“ vor dem Hintergrund zweier Entwicklungen etwas gewandelt: Zum einen wird, nicht zuletzt aufgrund anstehender Aus- bzw. Weiterbildungsreformen, vermehrt über therapeutische Basiskompetenzen oder Therapiemodule diskutiert, die in der Regel auch spezifische interaktionelle oder interpersonale Kompetenzen umfassen (Linden et al., 2007; Strauß & Kohl, 2009; Herpertz, 2020). 

Ein weiterer Bezugspunkt ist, dass es eine gewisse Evidenz gibt, dass die Person des Therapeuten für das Therapieergebnis zumindest so wichtig ist, wie andere Faktoren, etwa die therapeutische Arbeitsbeziehung. In Psychotherapiestudien findet sich immer eine signifikante Anzahl von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, die entweder „zuverlässig“ schlechte oder gute Therapieergebnisse „produzieren“, sog. Pseudo- vs. Super-Shrinks, was beispielsweise über „minimal feindselige“ Verhaltensweisen oder eine begrenzte allgemeine interpersonelle Kompetenz erklärt wird (Okiishi et al., 2006; Castonguay & Hill, 2018). 

Es gibt eine begrenzte und schwer integrierbare Forschung zur Wirkung von Selbsterfahrung bzw. zu deren Wahrnehmung durch psychotherapeutisch Tätige in unterschiedlichen Graden ihrer Ausbildung. Aktuelle Übersichten finden sich bspw. bei Murphy et al. (2018) oder Edwards (2018). In einer Übersicht von Beutler et al. (2004) im Handbook of Psychotherapy and Behavior Change wird die Selbsterfahrung in dem Ordnungsschema für Therapeutenvariablen den „zu erschließenden Traits“ zugerechnet. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine eigene Therapie der Therapeuten keinen systematischen Einfluss auf die Wirksamkeit von deren Behandlungen zu haben scheint, wobei auch Beutler et al. kritisch diskutieren, ob dieser unmittelbare Einfluss a) untersuchbar und b) überhaupt zu erwarten sei.

Bei der Frage nach dem Zusammenhang zum Therapieergebnis stellt sich naturgemäß die Frage der Untersuchbarkeit, da davon auszugehen ist, dass Selbsterfahrung oder Eigentherapie vermutlich eher langfristige Wirkungen hat und sich nicht unmittelbar auf Therapien auswirkt, sondern im Kontext des lebenslangen Lernens zu sehen ist. So zeigte sich in einer Befragung von Orlinsky et al. (2004), die sich auf mehr als 4.000 zumeist psychodynamisch praktizierende Psychotherapeuten bezog, dass die Selbsterfahrung nach der Erfahrung mit den Patienten in der Therapie und dem Erhalt formaler Supervision und Hilfe als drittwichtigstes Moment der Psychotherapeutenkarriere erachtet wird. In derselben Studie wurde der Nutzen der Selbsterfahrung für die Identitätsentwicklung, für die Stärkung der Identität und die Haltung zur Therapiemethode sowie für die Entwicklung von Selbstreflexivität, Selbsterkenntnis und -verständnis, Selbstwert, Reflexion von Beziehungsmustern und therapeutischer Effizienz, Empathie und therapeutische Fertigkeiten hoch eingeschätzt. 

Ein weiteres Thema, das vor allem in jüngster Zeit häufiger thematisiert wird, ist der präventive Aspekt von Selbsterfahrung sowohl im Hinblick auf berufsbedingte Veränderungen unter Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten (Stichwort Burnout), wie auch die Reduktion von Risikofaktoren auf Seiten des Therapeuten. Zu ersterem wird häufig der Befund von Orlinsky & Ronnestad (2005) genannt, dass unter praktizierenden Therapeuten unterschiedlicher theoretischer Orientierung ein nicht unbeträchtlicher Anteil zu finden ist, der entweder im Hinblick auf die berufliche Motivation und das Engagement eingeschränkt ist und/oder unter einem hohen Maß an subjektiver Belastung leidet. Immerhin 13 % der untersuchten Therapeuten wurden im Hinblick auf ein stressful involvement und ein healing involvement als übermäßig engagiert klassifiziert.

Im Zusammenhang mit den Risikofaktoren für Psychotherapeuten (vgl. z. B. Tschan, 2004) wird häufig angemerkt, dass auch Psychotherapeuten psychisch beeinträchtigt sein können, oftmals kritische Lebensereignisse in ihrer eigenen Biografie und Vorgeschichte aufweisen und manchmal Schwierigkeiten haben, mit eigenen Beeinträchtigungen und Belastungen umzugehen. Dazu kommt, dass der Psychotherapeutenberuf eine Reihe von ungünstigen „Nebenwirkungen“ haben kann (emotionale Belastungen, Erschöpfung, z. B. Schneider, 2018; Märtens, 2018). Diese Nebenwirkungen können u. U. auch beinhalten, dass sich Therapeutinnen und Therapeuten inadäquat und unethisch verhalten, wie dies bspw. im Kontext von Beschwerden in Schiedsstellen oder anderen Einrichtungen, wie etwa dem Ethik-Verein, deutlich wird (Linden & Helmchen 2018; Schleu 2019). In einer älteren Übersicht von Orlinsky & Howard (1975) wurde hervorgehoben, dass die Verantwortung des Therapeuten in seiner Sensibilität gegenüber dem Patienten und sich selbst liegt, was dazu dient die gegenseitigen Erfahrungen miteinander in Beziehung zu bringen. 

Ähnlich wie in der allgemeinen Psychotherapieforschung gibt es auch bzgl. der SE keine belastbare Forschung zu Nebenwirkungen (Edwards 2018). Kasuistisch bekannt ist, dass SE zu Störungen in Partnerbeziehungen der Supervisanden führen kann, zu einer verstärkten „therapeutischen Distanz“ bis hin zu einem Empathiemangel, zur Vermittlung dysfunktionaler Therapiestile, zum Egozentrismus, zur Induktion oder Aggravierung von Problemen, zur Demoralisierung, Infragestellung der Selbsteffizienz und Selbstverunsicherung, Berufswechsel, zu Auseinandersetzungen und Herabwürdigungen in Gruppen, u. ä. So berichten etwa 25 % von SE-Teilnehmer über negative Erfahrungen, wobei für viele, die negative Folgen nannten, die Bedeutung von Selbsterfahrung unklar war, sie sich wenig vorbereitet fühlten, Abhängigkeiten als Problem erlebten, ebenso wie fehlende Wahlmöglichkeiten. Für manche stellte die Selbsterfahrung eine temporäre Erfahrung „ohne weitere Konsequenzen“ dar (Strauß & Täger, 2021).

Eine bedeutsame Belastung durch Selbsterfahrung ist auf jeden Fall, dass beispielsweise 150 Stunden Selbsterfahrung einem Kostenfaktor von ca. 10.000 Euro entsprechen und 200 Arbeitsstunden, bzw. bis zu drei Jahren Ausbildungszeit. Die Vergütung für den Selbsterfahrungsleiter muss zudem in der Regel vom Weiterbildungsteilnehmer selbst bezahlt und neben seiner täglichen Arbeit abgeleistet werden, was eine Weiterbildung unattraktiv machen, und sogar potentielle Facharztkandidaten von diesem Berufsweg abhalten kann.

4. Psychodynamische Perspektive
Im Folgenden sollen psychodynamische Konzepte der SE dargelegt werden.

4.1. Ziele der SE aus psychodynamischer Sicht
Die Selbsterfahrung in der psychodynamischen Therapie hat drei Hauptziele:  
(a) Erlernen therapeutischer Techniken und Methoden  
(b) Erlernen grundsätzlicher Interaktionskompetenzen 
(c) Persönlichkeitsreifung und Entwicklung selbstreflexiver Kompetenzen des Therapeuten. 

zu (a) Erlernen therapeutischer Techniken und Methoden:

  • Der Therapeut soll die Fähigkeit entwickeln, vor dem Hintergrund des Übertragungs-/ Gegenübertragungskonzepts eigene wiederkehrende (insbesondere maladaptive) interpersonelle Muster und Muster in Gedanken, Gefühlen und dem Selbstkonzept und damit verbundene Abwehrprozesse und Strategien zur Vermeidung unangenehmer Gefühle und Zustände (wie z. B. Projektionen, Identifikationen, Beziehungsaspekte der Symbioseneigung, Verschmelzungswünsche, damit verbundene Entgrenzungserfahrungen) zu identifizieren und mit entsprechenden Interventionen wie etwa Konfrontation, Deutung und Klarifikation zu bearbeiten.  
  • Analog soll er die Fähigkeit entwickeln, entsprechende eigene Konfliktmuster und strukturelle Fähigkeiten und Schwächen zu identifizieren. Die Wahrnehmungsprozesse müssen rasch ablaufen können, es muss eine gewisse Leichtgängigkeit des Perspektivenwechsels möglich sein, etwa zwischen dem Subjekt-Selbst und dem Objekt-Selbst, zwischen dem individuellen und dem sozialen Selbst, zwischen dem idealen und realen Selbst. Die für diese Perspektivenwechsel benötigte therapeutische Ich-Spaltung soll gelernt werden.  
  • Die Einschätzung von zum Beispiel narzisstischer Verunsicherbarkeit, Resilienz, Lösungsmöglichkeiten aus der Selbsterfahrung haben einen Einfluss auf das Repertoire an diskutierbaren Entwicklungsperspektiven, ihre Lebendigkeit und Überzeugungskraft. Das Gleiche gilt etwa für Prozesse der Identifikation oder Kontra-Identifikation, der Internalisierung und Projektion oder Externalisierung, Prozesse, die für das Lernen und seine Blockaden in der Psychotherapie essenziell sind. 
  • Das Sich-Üben in Selbsterfahrung entspricht der Notwendigkeit, Eigenübertragungsanteile, die aus den charakteristischen biographischen Erfahrungen und den damit verbundenen Emotionen der Therapeuten resultieren und auf Patienten projiziert werden bzw. die Wahrnehmung des anderen und der therapeutischen Situation beeinträchtigen können, ins Bewusstsein zu heben, um diese von Gegenübertragungsanteilen – also Emotionen, die in TherapeutInnen durch Projektionen oder projektive Identifikationen von den Patienten induziert werden – differenzieren zu können. Gegenübertragungsanteile sagen etwas über die psychischen Vorgänge der PatientInnen aus, während Eigenübertragungsanteile die Psyche der Therapeuten repräsentieren. 
  • Psychodynamische Arbeit setzt auf der Therapeutenseite voraus, dass der Therapeut mit seiner Haltung die Exploration der unbewussten Dynamik, die die Beziehungen beeinflusst, erleichtert, eine intrapsychische und interpersonelle Spannung halten kann, ohne sofort entsprechend zu handeln, dem Patienten so helfen kann, unausgesprochene oder unbewusste Gefühle wahrzunehmen (Containing). Hierzu gehören spezifischerweise die Fähigkeiten, mit und in der Übertragung und mit der Gegenübertragung zu arbeiten, Abwehr und Widerstand zu erkennen und hiermit zu arbeiten, sowie die Fähigkeit, dynamische Deutungen vorzunehmen.  

zu (b) Erlernen grundsätzlicher Interaktionskompetenzen:

  • Der Therapeut soll lernen, dem anderen der zu sein, „der nicht weiß, der aber wissen will“. Er muss über die Sicherheit verfügen, zwischen eigenen und fremden seelischen Konflikten sowie deren weiteren Verarbeitungsformen unterscheiden zu können und ein Verstehen des Patienten auf der Basis eines reflektierteren Selbstverständnisses erreichen zu können.  
  • Die Erfahrung, über sich selbst in Gegenwart eines anderen gesprochen zu haben, trägt zu einem vertiefteren Verständnis für die Situation des Patienten in der psychotherapeutischen Behandlung bei. 
  • Die interpersonelle Beziehung ist sowohl Medium als auch Instrument der psychodynamischen Psychotherapie. Sensibilität, Feingliedrigkeit und Konzeptualisierung der intersubjektiven Wahrnehmung für sprachliche Äußerungen und die emotionale Gestaltung der Beziehung geben die Grundlage für die Feindiagnostik der Konflikte und psychischen Störungen des Patienten. Schließlich wird von der Komplexität der Wahrnehmung auch das Repertoire bestimmt, mit dem man auf das Beziehungsangebot und die Selbstdarstellung des Patienten eingehen und therapeutisch wirksam werden kann. Es ist deshalb die Schulung einer Beziehungskultur unerlässlich. Dabei gilt, dass nur so viel Fremd-Empathie erreicht werden kann, wie Selbst-Empathie entwickelt wurde, ähnlich wie man in einer Fremdsprache nicht über die Sprachsozialisation in der Muttersprache hinausgelangt. 

 

zu (c) Persönlichkeitsreifung und Entwicklung selbstreflexiver Kompetenzen des Therapeuten:

  • Gerade weil man in diesem Beruf immer wieder persönlich involviert ist, reicht eine bloße Supervision zu diesem Zweck nicht aus. Die vielfältigen Motive für die Wahl des Berufs (inklusive der Helfersyndrome in allen Spielarten therapeutischen Personals) können kontraproduktive Auswirkungen auf die Therapien haben. Darüber zu reflektieren ist ein wichtiges Feld für die Selbsterfahrung.  
  • Die Introspektionsfähigkeit des Psychotherapeuten, wie die aller Menschen trägt wesentlich zu Modellbildungen bei, andere Menschen zu verstehen. Daher kommt die Schulung der Selbstreflexivität und der Introspektionsfähigkeit, der Komplexität der Wahrnehmung und ihrer Konzeptualisierung, der Urteilssicherheit und der Fähigkeit, sich selbst zu relativieren, zugute.  
  • Die Teilnahme an Selbsterfahrung soll die Fähigkeit zu einem kompetenten, einfühlsamen und respektvollen Umgang auch mit Spannungssituationen schulen. Diese Kompetenz ist dann auch in außertherapeutischen Lebenssituationen von Relevanz. 

4.2. Probleme der psychodynamischen SE 

  • Es kann in der psychodynamisch orientierten Selbsterfahrung zu Problemen und Fehlentwicklungen kommen, die mit demütigenden Elementen der Verfahren oder der Gefahr der Abhängigkeitsbildung in emotionaler, finanzieller und praktischer Hinsicht zusammenhängen. Zudem besteht die Möglichkeit, dass eine Selbsterfahrung nicht gelingt, was dann möglicherweise mehr Schaden als Nutzen stiftet.  
  • Ein Einstieg über Einzel- vs. Gruppenselbsterfahrung wird kontrovers diskutiert. Als günstig wird ein Einstieg über Einzelselbsterfahrung dann angesehen, wenn die hohen interaktionellen und konfrontativen Anforderungen einer Gruppenselbsterfahrung als kritisch erachtet werden. Eine initiale Gruppenselbsterfahrung kann intrapsychische Beziehungs- und Konfliktkonstellationen mobilisieren, die dann in einer Einzelselbsterfahrung bearbeitet werden können. 
  • In der therapeutischen Arbeit kommt es zu Begegnungen mit beiden Geschlechtern, mit jeweils unterschiedlichen Eigen- aber auch Gegenübertragungsanteilen. Um möglichst differenzierte Erfahrungen in der Selbsterfahrung machen zu können, kann es demzufolge von Vorteil sein, wenn in der Einzelselbsterfahrung die Selbsterfahrungsleitung beide Geschlechter repräsentiert und die Eigenübertragungsanteile in der Interaktion sowohl mit einem Mann als auch mit einer Frau als Selbsterfahrungsleiter erkannt und reflektiert werden können.  
  • Wird Selbsterfahrung in der Weiterbildung ernst genommen und als Bereicherung erlebt, wird die Bereitschaft der Therapeuten verstärkt, letztlich jede Lebenssituation zur Auseinandersetzung mit sich selbst zu nutzen und Erkenntnisfortschritte sukzessive zu ermöglichen. Selbsterfahrung wird damit zu einem kontinuierlichen Prozess, der auch außerhalb der therapeutischen Arbeit bei der eigenen Emotionsregulation hilfreich sein kann. 

4.3. Zusammenfassung aus psychodynamischer Sicht
In der psychodynamisch orientierten Psychotherapie ist die SE ein essenzieller, nicht wegzudenkender Bestandteil der Aus- und Weiterbildung. In der SE werden unmittelbar zentrale psychotherapeutische Techniken erlernt. Ein Kompetenzerwerb in der Anwendung der psychodynamischen Therapie und diesbezüglicher Techniken ohne die Ausbildung (ggfls. Lehranalyse) im Rahmen der SE ist nicht möglich. Die psychodynamische Selbsterfahrung basiert dabei wesentlich auf der persönlichen Beziehung zwischen Selbsterfahrungsleiter und Auszubildendem. 

Die von der Weiterbildungsordnung für Ärzte vorgesehene Umfang von etwa 150 Stunden SE in Einzel- und Gruppenform hat sich nach Auffassung der psychodynamischen Fachvertreter der Arbeitsgruppe bewährt.

Die Einzelselbsterfahrung sollte in kontinuierlicher Form bei einem oder maximal zwei SE-Leitern durchgeführt werden, um die geforderten Übertragungsprozesse zu ermöglichen. 

5. Verhaltenstherapeutische Perspektive
Im Folgenden sollen verhaltenstherapeutische Konzepte der SE dargelegt werden.

5.1. Ziele der SE aus verhaltenstherapeutischer Sicht
Ein Paradigma der Verhaltenstherapie ist, dass es nicht die eine therapeutische Beziehung gibt, sondern, dass bei unterschiedlichen psychotherapeutischen Kontexten oder Interventionen der Verhaltenstherapeut unterschiedlich intervenieren muss, was auch die Beziehungsgestaltung einschließt. Es lassen sich mehrere Ausbildungsziele unterscheiden, die u. a. auch in der SE Thema sind, die vor allem aber in der unmittelbaren Begegnung mit dem Patienten gelernt und realisiert werden müssen:

(a) Reaktion auf Psychopathologie und psychische Störungen 
(b) Empathie und Verstehen des Erlebens des Patienten  
(c) Erlernen einer komplementären Beziehungsgestaltung 
(d) Erlernen einer interventionsadäquaten Beziehungsgestaltung 
(e) Selbsteinbringung im Modelllernen  
(f) Erkennen eigener idiosynkratischer Reaktionstendenzen  
(g) Erlernen sozialer Kompetenz 
 

Zu (a) Reaktion auf Psychopathologie und psychische Störungen:
Es gehört zum Grundwissen von Psychotherapeuten, dass psychische Störungen sich immer auch interaktionell auswirken bzw. durch interpersonelle Aspekte aufrechterhalten werden. Beispiele sind Unklarheiten bei der Sachklärung bei Patienten mit organischen oder psychotischen Störungen, emotionale Färbung der Interaktion bei Patienten mit Depression oder Persönlichkeitsstörungen, oder Unsicherheiten in der Begegnung bei Patienten mit Angststörungen. Besonders relevant ist die Erfassung von Emotionen und Verhalten, das sich direkt gegen den Therapeuten wendet wie z. B. Vorwürflichkeit, Anhänglichkeit, sexuelles Interesse usw. Therapeuten müssen lernen, wie sich Psychopathologie „anfühlt“. Sie müssen merken, wenn ein Patient im Denken umständlich ist, und dürfen dies nicht mit Nachdenklichkeit verwechseln. Sie müssen einen depressiven Affekt spüren und von einem Missmutsaffekt abgrenzen können. Sie müssen erkennen, dass die Suche nach Nähe oder sogar sexueller Aufmerksamkeit ein Merkmal der vorliegenden Störung ist und nichts mit dem Therapeuten zu tun hat. Im Rahmen der SE kann die interaktionelle Wertigkeit von Symptomen herausgearbeitet werden. Es kann auch die interaktionale innere Distanz zu übergriffigem Patientenverhalten gelernt werden. Menschen reagieren unterschiedlich auf Verworrenheit, Depression oder eine histrionische Affektauslenkung. In der SE soll der Kandidat lernen, wie er spontan auf Störungen der Emotionsregulation u. ä. reagiert und einen professionellen Umgang damit lernen.

Zu (b) Empathie und Verstehen des Erlebens des Patienten: 
Zur Erfassung psychopathologischer Interaktionsauffälligkeiten gehört auch die Erarbeitung von Empathie. Damit ist in der Verhaltenstherapie nicht die „emotionale Empathie“ gemeint, was wesentlich eine Projektion eigener Gefühle auf den Patienten ist, sondern die professionelle Fähigkeit, sich in das Erleben und die Weltsicht des Patienten hineinversetzen zu können. Dies schließt insbesondere auch solche Erlebensanteile mit ein, die dem Therapeuten zuwider sind (z. B. pädophile Neigungen). Bei mangelhaften Kompetenzen i. S. der Theory of Mind sollte geübt werden, wie man zu einem tieferen Fallverständnis kommen kann. 
Dies kann partiell in der SE und speziell in der SE-Gruppe erlernt werden 
 

Zu (c) Erlernen einer komplementären Beziehungsgestaltung: 
Ein Verhaltenstherapeut muss lernen, abhängig von der vorliegenden Störung, unterschiedliche Rollen wie auch Beziehungsgestaltungen zu realisieren. Bei aggressiven Patienten muss er in der Lage sein, eine submissive Haltung einzunehmen, bei ängstlichen Patienten eine beruhigende, bei depressiven Patienten eine aktive, bei schizophrenen Patienten eine strukturierende.

In der SE kann geübt werden, unterschiedliche „Therapeuten-Persönlichkeiten“ zu realisieren und erkannt werden, wo in der Umsetzung eigene Stärken und Schwächen liegen.  


Zu (d) Erlernen einer interventionsadäquaten Beziehungsgestaltung:  
Ein Verhaltenstherapeut muss lernen, abhängig von der anstehenden Intervention unterschiedliche Rollen wie auch Beziehungsgestaltungen zu realisieren. Bei einer Expositionsbehandlung kann dies eine führende Rolle sein, gepaart mit viel Reassurance. Bei einem sokratischen Dialog kann dies eher eine nachdenklich zurückgenommene Haltung sein. Bei einem Selbstsicherheitstraining kann dies eine edukative und nüchtern neutrale Haltung sein. Bei einem Rollenspiel wird eine aktive und dynamische Einbringung verlangt. 
In der SE kann ein Gespür entwickelt werden für die unterschiedlichen emotionalen und interaktionellen Stile, die verlangt werden. Es kann erkannt werden, wo in der Umsetzung eigene Stärken und Schwächen liegen.  

Zu (e) Selbsteinbringung im Modelllernen:  
Von einem Verhaltenstherapeuten wird in vielen Situationen verlangt, dass er sich auch persönlich einbringt. So muss er beispielsweise bei einem Rollenspiel in der Lage sein, verschiedene Personen zu spielen, mal ängstlich, mal energisch auftretend, mal distanziert, mal verführerisch. In der SE kann er seine diesbezüglichen schauspielerischen Kompetenzen erproben und sich eine Rückmeldung einholen, wie weit ihm das gelungen ist. Dies gilt aber grundsätzlich auch für jede andere Therapiesituation. Ein Therapeut mag freundlich wirken wollen, wirkt auf andere jedoch kühl oder sogar kritisierend. Die SE ist ein Ort, in dem Selbst- und Fremdbild und -wirkung abgeglichen werden können.

Zu (f) Erkennen eigener idiosynkratischer Reaktionstendenzen:  
Jeder Mensch und so auch jeder Therapeut hat seinen eigenen für ihn charakteristischen Interaktionsstil. Ebenso gibt es Vorlieben für bestimmte Situationen und Probleme. Es gibt Menschen, welche die Lebendigkeit histrionischer Persönlichkeiten schätzen und unter der Lahmheit depressiver Patienten leiden. Andere finden die Hilflosigkeit mancher Patienten anrührend und erleben selbstbewusst auftretende Patienten als nervig. Manche Therapeuten lieben alte Menschen, andere junge, während sie mit den jeweils anderen nicht klarkommen.  
Die SE ermöglicht, solche Reaktionstendenzen zu erkennen und zu lernen, sich bei entsprechenden Konstellationen professionell gegen den eigenen Stil sachgerecht zu verhalten. Es kann gelernt werden, zu erkennen, auf welche Weise man auf dysfunktionale Emotionen des Patienten selbst dysfunktional reagiert und wie eine funktionale Emotionsregulation aufgebaut werden kann. 

Zu (g) Erlernen sozialer Kompetenz:  
Menschen haben von Natur aus unterschiedliche soziale Kompetenzen, unterschiedliche Sprachstile und unterschiedliche Denkstrukturen. Zu trainieren sind ggfls. Sprachgewandtheit, angemessener Ausdruck von Emotionen, überzeugendes Auftreten, Vermittlung von Hoffnung, emotionale Wärme, Fähigkeit zum Zuhören, Akzeptanz der Sicht des Patienten, Offenheit für Selbstzweifel, Hinnahme von Kritik, Verständnis für die Gefühle anderer, Fähigkeit und Bereitschaft auf frühere Ideen Anderer aufzubauen, Reaktion auf konträre Meinungen. 
Falls therapierelevante Defizite bestehen, können einzelne dieser Fähigkeiten auch in der SE und insbesondere der Gruppen-SE eingeübt werden. 
 

5.2. Probleme der verhaltenstherapeutischen SE
Aus der verhaltenstherapeutischen Theorie, wie aus dem in der Verhaltenstherapie geltenden Axiom der Empiriebasierung, ergeben sich eine Reihe von Problemen bzgl. der SE. 

Wie bereits angesprochen, erfolgte die Einführung der SE in die Verhaltenstherapie im Zuge berufspolitischer Auseinandersetzungen, um die Gleichberechtigung der Verhaltenstherapie im Gesundheitswesen zu erreichen, was bedingte, Strukturen und teilweise auch Begriffe und Inhalte der analytischen Lehranalyse und Selbsterfahrung zu übernehmen.  

Allerdings war fachlich unbestritten, dass die dort geforderten Elemente nicht unverändert übernommen werden können, sondern es einer verfahrensspezifischen Adaptation bedarf. Eine direkte Übertragung des psychodynamischen Selbsterfahrungskonzepts war allein schon aus theoretischen Gründen nicht möglich, da es dort um eine therapeutisch-analytische Psychotherapie mit Arbeit an Übertragungsphänomenen, Widerstandsarbeit sowie der Analyse und Bearbeitung unbewusster Konflikte geht, was der Verhaltenstherapie wesensfremde Konstrukte sind. 

Die Beantwortung der Frage, ob in der Verhaltenstherapie SE erforderlich ist, mit welchen Zielen, welchem Umfang und in welcher Form, muss eingebettet werden in die Gesamtorganisation der Ausbildung. SE findet in der VT in unterschiedlichen Settings statt. 

(a) Selbsterfahrung in der Supervision: 
Ein Kennzeichen der verhaltenstherapeutischen Ausbildung ist, dass die Behandlungssupervision mit Einsatz von Audio- oder Videobändern und direk¬ter Beobachtung und Anleitung der Therapie durch den Supervisor erfolgt. Das Ziel der Selbst-erfahrung in der Verhaltenstherapie ist weniger eine Persönlichkeits¬entwick¬lung des Therapeuten als vielmehr das Kennenlernen eigener Reaktionen auf bestimmte Interaktions- und Psychopathologiesituationen, soweit dies der Therapie dienen kann. Dies ist ein zentraler Bestandteil der bandgestützten Supervision. Der Supervisor kann unmittelbar beobachten, wie die emotionale Reaktion des Therapeuten ist, wie er auf den Patienten reagiert, wo er blinde Flecken hat, welche idiosynkratischen Reaktionsvorlieben vorliegen usw. Er kann Hinweise zu einer Selbstmodifikation geben, konkrete Selbstmodifikationsaufgaben stellen und auch deren Erfolg und Entwicklung beobachten. Wenn es sich um eine Gruppensupervision handelt, wird dies ergänzt durch Rückmeldungen der Peers, was den Rückmeldungen an den Therapeuten zusätzliche Validität gibt. In der Verhaltenstherapie findet ein wesentlicher Teil der Selbsterfahrung also in der direkten Interaktion mit Patienten statt, was ein vertieftes und situationsspezifisches Lernen ermöglicht. 

(b) Selbsterfahrung in der Theorieausbildung:  
Selbsterfahrung findet in der Verhaltenstherapie in relevantem Umfang auch in der Theorieausbildung statt. Darauf wird auch von Universitäten mit Blick auf die studentische Ausbildung in Psychotherapie hingewiesen. Es gehört zum Standard verhaltenstherapeutischer Kurse, dass dort auch „geübt“ wird, seien es therapeutische Techniken oder Interaktionsverhalten. Es werden Kompetenzen trainiert, die unmittelbar der Ausübung von VT förderlich sind. Dies sind verhaltensändernde SE-Methoden. 

(c) Interaktionelle Fallarbeit  
Eine patientenbezogene SE beinhaltet auch die sog. „Interaktionelle Fallarbeit (IFA)“, für die in der Weiterbildungsordnung 35 Stunden verlangt werden. In der IFA geht es darum, eigene idiosynkratische Reaktionen auf unterschiedliche Patientenkonstellationen kennen zu lernen, was ebenfalls der SE zuzurechnen ist.  

(d) Selbsterfahrung im Gruppen- und Einzelsetting 
Eine Selbsterfahrung im Gruppen- und Einzelsetting, d. h. ohne sonstigen Therapiebezug, arbeitet im Wesentlichen mit Selbsteinbringung, Interaktion, Rollenspielen, Verhaltens-proben, Selbst- und Verhaltensbeobachtung oder Diskussionen. Es geht um ein individualisiertes Training zu spezifischen Aspekten einer persönlichen Leistung durch Wiederholung und Verfeinerung (Ericsson & Lehmann, 1996). Es können auf diese Art zusätzlich zu den vorgenannten SE-Methoden einige zusätzliche Lernerfahrungen ermöglicht werden, jedoch keine vollumfängliche therapeutische Selbstentwicklung. Übungsziele sind (1) „Wie fühlt sich eine Person in der Rolle als Befragter/Patient?“. Zu lernen ist, wie schwierig es sein kann über sich selbst zu sprechen. Es sind Erfahrungen zu machen im Umgang mit Hemmungen, Scham, Offenheit, Ehrlichkeit, Risikobereitschaft, der Bereitschaft, sich negativen Gefühlen zu stellen. Methoden sind geleitetes Entdecken, Selbstbeobachtung, Selbstexploration, Selbstreflexion. Übungsziel 2 ist: „Wie erlebe ich mich als Befrager/Therapeut?“ Zu üben sind Verständnis und Wertschätzung für den anderen und die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte zu erfassen und übersichtlich zu gestalten. Methoden sind gezieltes Explorieren, gezielte Beobachtung verbal und nonverbal, zugewandtes Stützen und Auffangen des Gesprächspartners. Übungsziel 3 ist: „Interaktionelle Kompetenz“. Es ist zu lernen, sich zu öffnen und gleichzeitig eigene Grenzen abzustecken. Übungsziel sind Selbstvertrauen und Vertrauen in andere, Taktgefühl, Fähigkeit zur Selbstkritik, Akzeptanz von Fremdkritik. Methoden sind Einbringen als aktiver Interaktionspartner und Gruppenmitglied, Auseinandersetzung mit neuen Erfahrungen. Übungsziel 4 ist: „Kennenlernen psychologischer Grundlagen der verhaltenstherapeutischen Arbeit“. Zu vermitteln sind Kenntnisse basaler psychologischer Prozesse, wie beispielsweise Erleben von automatischen Gedanken und internen Dialogen, Angstmanagement oder Hausaufgaben. Methoden sind Wissensvermittlung und Verhaltensexperimente. 

5.3. Zusammenfassung aus verhaltenstherapeutischer Sicht
Selbsterfahrung in der VT muss ein breites Spektrum an therapeutischen und interaktionellen Kompetenzen vermitteln, die nur bedingt von der jeweiligen Persönlichkeit abhängen, sondern ein Erfahrungs- und Handlungswissen darstellen, das gelernt werden muss. Dazu bedarf es unterschiedlicher Vorgehensweisen (bandgeleitete Supervision, Übungsseminare, Interaktionelle Fallarbeit, kontextfreie SE), die im Verbund gesehen werden müssen. Es bedarf daher auch unterschiedlicher SE-Leiter zur Vermittlung jeweils spezifischer Kompetenzen. Das bisherige Anforderungsprofil an SE in der Weiterbildungsordnung wird der Verhaltenstherapie weder formal noch inhaltlich gerecht.

In der derzeitigen Ausbildung von Ärzten für Psychiatrie und Psychotherapie werden 100 Stunden verhaltenstherapeutisch orientierte Theorie- und Fallseminare verlangt. Hinzu kommen 35 Stunden Interaktioneller Fallarbeit. Des Weiteren sind 10 verhaltenstherapeutischen Einzeltherapien mit mehr als 200 Stunden, d.h. mindestens 50 Supervisionsstunden zu erbringen. In der VT sind Bandaufnahmen als Grundlage der Supervision die Regel.

Der Fokus der kontextfreien SE ohne Patientenkontakt sollte in der Verhaltenstherapie primär auf der Vermittlung therapeutischer interpersoneller Fertigkeiten liegen und nur begrenzt auf einer Selbstreflexion oder Achtsamkeitsübungen. Sie ist kein Selbstzweck. Die in der Verhaltenstherapie an die kontextfreie SE geknüpften Ausbildungsziele sollten in einem halben Jahr mit 20 Stunden Einzel-SE und einem weiteren halben Jahr mit 30 Stunden Gruppen-SE erreichbar sein. 

6. Empfehlungen 
6.1. Allgemeine Überlegungen
Es bestand in der AG Einvernehmen, dass SE in den unterschiedlichen Verfahren unterschiedliche Bedeutung hat und unterschiedlich durchgeführt werden sollte.  
Die SE muss im Verbund gesehen werden mit Balintgruppen/IFA und Fallsupervision. Es ist zu klären, wie inhaltlich, personell und organisatorisch eine Abstimmung erfolgen kann. 

6.2. Stundenumfang der SE
Es gibt unterschiedliche und zum Teil sehr dezidierte Meinungen zum unabdingbaren oder wünschenswerten Umfang der SE, ohne dass diesbezüglich eine empirische Evidenz vorliegt. Die Einschätzungen der Experten basieren auf subjektiven Meinungen. 

Es ist unwidersprochen, dass die Rekrutierung von Fachnachwuchs nicht durch überzogene Vorgaben gefährdet werden darf und dass alle zeitlichen und finanziellen Weiterbildungsanforderungen und deren Eingliederung in einen üblichen Arbeitstag in der Zusammenschau bedacht werden müssen. Die Weiterbildungskosten und -zeiten müssen auf das unverzichtbare Mindestmaß begrenzt werden. Dies gilt wegen der fehlenden Evidenz bezüglich ihrer Wirkungen und Nebenwirkungen in besonderer Weise auch für die SE. Mit Blick auf die Weiterbildungszeiten und erforderliche Wechsel in den Weiterbildungsstätten sollte als Grundregel gelten, dass die SE in einem Jahr abgeleistet werden können sollte. 

6.3. Auswahl von SE-Kandidaten
Die Position des Referats ist, dass SE für alle Psychotherapeuten ein verpflichtender Bestandteil der Ausbildung sein sollte. 

Unabhängig davon stellt sich die Frage, ob alle Weiterbildungskandidaten den gleichen Umfang an SE benötigen. oder ob die Stundenzahl bzw. Aufteilung in Einzel- und Gruppensitzungen nicht nach der individuellen Situation und Persönlichkeit der Kandidaten variieren sollte. 

Eine Selektion von Kandidaten würde allerdings das Problem aufwerfen, nach welchen Kriterien wer eine entsprechende Entscheidung fällt. Den Weiterbildungsbefugten sollte das Problem der individuellen Anpassung der SE jedoch bewusst sein. 

6.4. Verfahrensspezifität
Da die SE in den psychodynamischen Verfahren eine Sonderstellung hat, sind dort höhere Stundenkontingente anzusetzen als in der Verhaltenstherapie. Als Anhaltspunkte können verfahrensbezogen die vorgenannten SE-Umfänge dienen. 

Je nach Verfahren ist die SE unterschiedlich zu gestalten. Eine einheitliche Form der SE über alle Psychotherapieverfahren erscheint nicht sinnvoll. Die SE-Teilnehmer müssen die individuellen Kompetenzen in der SE lernen, die für die Anwendung des jeweiligen Verfahrens erforderlich sind, auch wenn es dabei Überschneidungen geben mag. 

In der psychodynamischen Ausbildung liegen Schwerpunkte auf der Übernahme einer „Patientenrolle“, der Selbstbetrachtung, der Persönlichkeitsreifung und einer Förderung der Selbstreflexivität. In der Verhaltenstherapie geht es um die Adaptation persönlicher Reaktionsstile an unterschiedliche Patienten und Interventionsmethoden und um den Erwerb allgemeiner therapeutischer interaktioneller Kompetenzen. 

Grundsätzlich sollte sich das methodische Vorgehen an den spezifischen Anforderungen des Verfahrens orientieren, in dem die Ausbildung erfolgt. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Teilnehmer die Methoden in der Selbsterfahrung kennen lernen, die sie im Weiteren dann auch bei Patienten anwenden. 

Dies bedeutet auch, dass der SE-Leiter eine Fachkunde in dem jeweiligen Verfahren haben muss und die SE verfahrensbezogen durchzuführen ist. 
 

6.5. Methodische Standardisierung 
Eine strikt standardisierte oder gar manualisierte Durchführung der Selbsterfahrung würde an den Bedürfnissen der Teilnehmer vorbei gehen. Andererseits wird das Feld zu heterogen und auch evtl. die Risiken für die Teilnehmer zu hoch, wenn die Inhalte und das methodische Vorgehen allein dem Stil und der Persönlichkeit des Leiters überlassen bleiben. Daher wird ein Mittelweg als sinnvoll angesehen. 

Es sind verfahrensbezogen Leitlinien für die SE zu entwickeln, die dann adaptiv von den SE-Leitern auf die individuelle Situation übertragen werden können.  

6.6. Durchführung der SE durch unterschiedliche Berufsgruppen 
Die Ausbilder und Weiterbilder in Psychotherapie sind traditionell Vertreter beider Gruppen approbierter Psychotherapeuten. Dies gilt auch für die SE. Ärztliche wie Psychologische Psychotherapeuten können bei entsprechender fachlicher Qualifikation als SE-Leiter für beide Berufsgruppen tätig sein. 
Davon unberührt ist, dass die Gesamtleitung der Aus- und Weiterbildung sich an geltenden juristischen Vorgaben zu orientieren hat. 

6.7. Berufsgruppenspezifische SE 
Die Ausbildungs- und Weiterbildungsordnungen geben für Psychologische Psychotherapeuten, Ärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, Ärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie oder Ärzte mit der Zusatzbezeichnung Psychotherapie unterschiedliche Zeitangaben für die Selbsterfahrung vor. Diese regulativen Vorgaben sind zu beachten. Unter fachlicher Perspektive gilt, dass alle Zahlenvorgaben nicht empirisch begründet sind. 

Es wird argumentiert, dass Psychologen meist schon in ihrem Studium Veranstaltungen mit Selbsterfahrungscharakter abgeleistet haben, weshalb Ärzte mehr SE benötigen würden. Dem steht entgegen, dass Ärzte im Rahmen ihrer Berufspraxis sehr viel mehr und sehr unterschiedliche Patientenkontakte haben und unter vielfältiger Peer- und Vorgesetztensupervision stehen, was auch die persönliche Charakterbildung und die Entwicklung therapeutischer Kompetenzen miteinschließt. Es ist nicht zu begründen, welche berufsgruppenspezifische Unterschiede sich daraus für den Umfang oder Inhalt der SE ergeben könnten. 

Aus Sicht des Referats können Teilnehmer unterschiedlicher Berufsgruppen SE zusammen durchführen. 

6.8. Genderspezifische SE 
Geschlechtsspezifische Aspekte müssen im Rahmen der SE grundsätzlich und individuell berücksichtigt und ggfls. auch zum Thema gemacht werden. Soweit SE in Gruppenform durchgeführt wird, kann diskutiert werden, ob es SE-Gruppen getrennt für Männer und Frauen geben sollte, oder ob geschlechtsgemischte Gruppen nicht helfen können, die jeweiligen Stereotype besser zu erkennen. Bei der derzeitigen Datenlage kann keine Empfehlung gegeben werden. 

6.9. Persönlichkeitsänderung in der SE 
SE dient in einem weiteren Sinne auch der Persönlichkeitsentwicklung oder -reifung. Es ist ein Charakteristikum der SE, dass damit auch die Person und Individualität des Kandidaten zum Thema wird. Dabei ist die Frage, inwieweit im Rahmen einer Aus- und Weiterbildung in die Persönlichkeit des Kandidaten „eingegriffen“ werden darf (Murphy et al., 2018).  
Die Persönlichkeit des Kandidaten sollte durch die SE nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden.

Ziel der SE darf nur eine systematische Selbstreflexion sein, um eigene Reaktionsstereotypien kennenzulernen, um diese dann ggfls. in der Therapieausübung kompensieren zu können. In der SE müssen Vorkehrungen getroffen werden, um die Individualität und Persönlichkeit des Kandidaten zu schützen.  

6.10. Zusammenstellung von SE-Gruppen 
Welcher Kandidat wann, mit anderen zusammen oder allein und unter Anleitung durch wen SE absolviert, ist pragmatisch zu klären. Es sollten keine Teilnehmer in einer Gruppe sein, die in gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnissen stehen (z. B. Oberarzt und Assistenzarzt). Die Teilnehmer sollten sich grundsätzlich nicht zu nahe sein. Bei Teilnehmern, die als Kollegen in derselben Einrichtung arbeiten, ist individuell zu klären, ob eine gemeinsame SE-Gruppe möglich ist. Generell sollten die Teilnehmer Wahlmöglichkeiten haben. Freunde oder gar Partner sollten nicht in dieselbe SE-Gruppe zugewiesen werden, Teilnehmer eines Ausbildungsjahrgangs können gemeinsam SE machen, da die Selbsterfahrung auch die Gruppenkohäsion insgesamt verbessern und die Offenheit der Teilnehmer auch in anderen Veranstaltungen fördern kann.  

6.11. Prüfer, Dozent, Supervisor und SE-Leiter in einer Person 
In der Supervision kommen wie in der SE Persönlichkeitsaspekte des Kandidaten zur Sprache. Insofern gibt es inhaltlich keine Interferenz, sondern ggfls. sogar Synergien. Daher kann der SE-Leiter zugleich auch Supervisor des Kandidaten sein. Die Kandidaten sollten aber eine Wahlmöglichkeit haben.

Dozenten haben in Übungsseminaren ebenfalls mit der Persönlichkeit der Kandidaten zu tun, wenn auch in geringerem Umfang. Von einem SE-Leiter kann eine situationsangemessene Zurückhaltung und insbesondere Reflexion erwartet werden, so dass eine gleichzeitige Dozententätigkeit einer SE-Leitung nicht im Wege steht.

Prüfer, von denen die Entscheidung über die weitere berufliche Karriere und die Berufsausübung abhängt, sind zu besonderer Neutralität verpflichtet. Ein SE-Leiter kann in seiner Neutralität beeinträchtigt sein, weshalb er nicht als Prüfer tätig werden sollte. 

6.12. Beziehung des SE-Leiters zur Arbeitsstätte des Kandidaten 
In der SE kommen notgedrungen auch peristatische Aspekte zur Sprache, d. h. auch Erfahrungen und Erlebnisse aus dem dienstlichen Kontext. Damit sind Fragen der Dienstverschwiegenheit berührt. Wenn ein SE-Teilnehmer über Erfahrungen an der Arbeitsstätte berichtet, kann es zu arbeitsrechtlichen Problemen wegen des Gebots der Dienstverschwiegenheit kommen.

Es ist daher sicherzustellen, dass der SE-Leiter mit der Arbeitsstelle einen Konsiliarvertrag hat, der erlaubt, dass er Dienstgeheimnisse berichtet bekommt, ohne diese zu verwerten. Soweit die Psychotherapieweiterbildung über ein Ausbildungsinstitut erfolgt, kann auch darüber ein Konsiliarvertrag abgeschlossen werden. 

6.13. Vertraulichkeit in der SE 
In der SE kommen personenbezogene Aspekte zur Sprache. Daraus ergeben sich hohe Anforderungen an die Vertraulichkeit und den Datenschutz. Für den Leiter der Einzel-SE sollten die gleichen Regeln gelten wie für Patientenbehandlungen. Jeder SE-Leiter sollte diesbezüglich eine juristisch bindende Erklärung unterschreiben.

In der Gruppen-SE stellt die Vertraulichkeit ein besonderes Problem dar. Es sollte diesbezüglich klare Gruppenregeln geben und die Teilnehmer sollten eine bindende Erklärung zur Schweigepflicht unterschreiben.  

6.14. Anteil von Theorie- und Praktikandoaktivitäten in der SE 
In der SE und speziell bei Gruppen-SE wird Theorie vermittelt (Information zur Therapeut-Patient-Beziehung, Interaktionsformen usw.), aber auch Praxiserfahrungen gemacht (Rollenspiele, Selbstbeschreibung, Selbstreflexion usw.). Je nach Verfahrensschwerpunkt hat beides eine unterschiedliche Rolle. Empfehlungen zur genauen inhaltlichen Ausgestaltung können nicht gemacht werden.  

6.15. Kombination von Einzel- und Gruppen-SE 
Einzel- und Gruppen-SE können unterschiedliche Erfahrungen vermitteln. Eine Kombination ist daher begrüßenswert. Die anteiligen Stundenumfänge können flexibel nach Bedarf des Einzelfalls und organisatorischer Machbarkeit verteilt werden. 
Es stellt sich die Frage, ob Einzel- und Gruppen-SE-Leiter sich austauschen dürfen. Dies sollte vom Einzelfall abhängig gemacht werden, jedoch nicht als Regel gefordert werden. 

6.16. Zahl der Einzel- und Gruppen-SE-Leiter 
In der Regel werden die Gruppen-SE und die Einzel-SE von unterschiedlichen SE-Leitern durchgeführt. Beides kann auch von einem SE-Leiter gemacht werden.  
Es kann von Vorteil sein, mindesten 2 SE-Leiter erlebt haben. 

6.17. Umgang mit fraglich geeigneten Kandidaten 
Eine Identifizierung potenziell ungeeigneter Kandidaten darf nicht über die SE erfolgen. Ungeeignete Kandidaten müssen im Rahmen der Fallsupervision erkannt werden. 

6.18. Finanzierung der SE 
Die Kosten für SE sollten analog zu den sonstigen Sätzen für Supervision liegen.  
Die Kosten werden derzeit meist von den Kandidaten getragen. 
Im Rahmen von Weiterbildungsverhältnissen sind die Arbeitgeber gefordert, auch die Kosten für die SE zu übernehmen. 

6.19. Erfolgsmessung der SE 
Die Effekte der SE werden erst mittel- bis langfristig im Verlauf der Berufsausübung erwartet. Daher ist eine kurzzeitige Erfolgsmessung nicht möglich. 
Unabhängig davon sollten die Teilnehmer die Möglichkeit haben, so wie bei anderen Ausbildungsteilen, einen Rückmeldebogen auszufüllen, um ihr eigenes Erleben zu Protokoll geben zu können. 

6.20. Nebenwirkungen von SE und Haftung 
SE hat ebenso wie Psychotherapie potenziell Nebenwirkungen, die auch durchaus von Relevanz sein können. Es sind Maßnahmen zu treffen, die ermöglichen, solche Fehlentwicklungen zu erkennen und ihnen ggfls. frühzeitig gegenzusteuern (Herrmann, 2018).  
Es kann zu haftungs- oder strafrechtlich relevanten Vorwürfen kommen (z. B. nicht Erkennen von Suizidalität, Übergriffigkeit). Der SE-Leiter sollte persönlich versichert sein.  
Da die SE in der Regel im Rahmen eines Ausbildungsinstituts oder einer Klinikweiterbildung erfolgt, sollte diese Möglichkeit auch bei den Versicherungen der Institution berücksichtigt werden. 

Die Institute und Kliniken sollten Vorkehrungen treffen, dass sich SE-Teilnehmer bei Bedarf vertraulich an einen Ombudsmann wenden können. 

6.21. Dokumentation 
Zur Qualitätssicherung (Sulz & Gräff-Rudolph, 2019) der erbrachten Aus- und Weiterbildungsleistungen sind Aufzeichnungen zu führen (über Anwesenheit, Datum und Stundenumfang der SE). 

Da eine SE personennah arbeitet und auch potenziell nebenwirkungsträchtig ist, sollte auch der Inhalt und Ablauf der SE dokumentiert werden.

Die SE-Dokumentationen sind gemäß den Regeln für den Schutz persönlicher Daten aufzubewahren, d. h. analog zu den Aufbewahrungsfristen für Patientenakten (derzeit 10 Jahre).

Autoren

Leitung:  
Prof. Dr. Michael Linden, Charité Universitätsmedizin Berlin (michael.linden@charite.de) 
Prof. Dr. Bernhard Strauß, Universitätsklinikum Jena (Bernhard.Strauss@med.uni-jena.de) 
(bis November 2018: Prof. Dr. Harald J. Freyberger, Universitätsmedizin Greifswald) 

Mitglieder  
Prof. Dr. med. J. Bäuml, München (j.baeuml@lrz.tu-muenchen.de) 
Prof. Dr. Martin Driessen, Bielefeld (martin.driessen@evkb.de) 
Prof. Dr. Iris Tatjana Graef-Calliess, Wahrendorff (graef-calliess@wahrendorff.de) 
Priv. Doz. Dr. med. Dr. med. habil. Michael Grube, Frankfurt (Michael.Grube@KlinikumFrankfurt.de) 
Prof. Dr. Sabine Herpertz, Heidelberg (sabine.herpertz@uni-heidelberg.de) 
PD. Dr. Jockers, Oberhavel (jockers@oberhavel-kliniken.de) 
Prof. Dr. Norbert Konrad, Berlin (norbert.konrad@charite.de) 
Dr. Robert Mestel, Bad Grönenbach (robert.mestel@online.de) 
Dr. Christoph Schade, Berlin (C.Schade@keh-berlin.de) 
Dr. Christiane Montag, Berlin (Christiane.Montag@charite.de) 
Prof. Dr. Alexandra Philipsen, Bonn (sekretariat.psychiatrie@ukbonn.de) 
Dr. med. Christoph Smolenski, Ahrweiler (christoph.Smolenski@ehrenwall.de) 
Prof. Dr. Ulrich Voderholzer, Prien (uvoderholzer@Schoen-Kliniken.de) 
Prof. Dr. Dorothea von Haebler, Berlin (dorothea.vonhaebler@charite.de) 
Dr Jochen von Wahlert, (jochen.von-wahlert@psychosomatische-privatklinik.eu) 
Dr. Michael Marwitz, Prien (mmarwitz@Schoen-Kliniken.de) 
 

Kontakt

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