29.01.2021 | Stellungnahme

Eckpunkte zu COVID-19-Impfung in der psychiatrischen Versorgung

Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen infizieren sich deutlich häufiger mit COVID-19, zeigen einen schwereren Verlauf und haben ein höheres Sterberisiko als die Allgemeinbevölkerung. Aber auch Mitarbeitende in der psychiatrischen Versorgung sind regelhaft hohen Ansteckungsrisiken ausgesetzt. Beide Gruppen müssen im Rahmen einer wirksamen Impfstrategie als Risikogruppe anerkannt, über entsprechende Impfmöglichkeiten informiert werden und prioritären Zugang zur Impfung erhalten. Sich hieraus ergebende Forderungen adressiert die DGPPN im vorliegenden Eckpunktepapier.

Zusammenfassung

  • Menschen mit psychischen Erkrankungen sind in der Impfverordnung des BMG als Risikogruppen anzuerkennen und sollten prioritären Zugang zu Impfmöglichkeiten erhalten.
  • Politik, Fach- und Selbsthilfeverbände müssen Menschen mit psychischen Erkrankungen als wichtige Zielgruppe für Information und Aufklärung über COVID-19, Hygienemaßnahmen sowie Möglichkeit und Sinnhaftigkeit einer Impfung adressieren.
  • In psychiatrischen Kliniken sollten Patienten eine Impfung in Anspruch nehmen können, zumindest wenn sie dort absehbar beide Impfungen erhalten.
  • Menschen mit einer psychischen Erkrankung, die aktuell nicht selbstbestimmungsfähig sind, sollten im Rahmen der üblichen rechtlichen Vorgaben eine Impfung erhalten können.
  • Mitarbeitende in bestimmten Bereichen der psychiatrischen Versorgung sollten prioritären Zugang zu Impfmöglichkeiten erhalten.
  • Werden ärztliche Atteste eingesetzt, um die Zugehörigkeit zu Risikogruppen zu bescheinigen, sollen diese keine Informationen zur konkreten Erkrankung/Diagnose enthalten, um einer Stigmatisierung der Betroffenen vorzubeugen.

Hintergrund

In Deutschland stehen bereits zwei zugelassene Impfstoffe gegen COVID-19 zur Verfügung. Weitere werden in den kommenden Wochen und Monaten folgen. Ziel ist es, allen Menschen, die eine Impfung wünschen, diese auch zu ermöglichen. Bis dieses Ziel erreicht ist, müssen knappe Impfressourcen nach ethisch, rechtlich und gesellschaftlich konsentierten und transparenten Regeln zugeteilt werden, damit zunächst vor allem diejenigen mit einem hohen Risiko für eine Infektion oder einem schweren Krankheitsverlauf geschützt sind. Die Betroffenen müssen dabei nicht nur ein Vorrecht zur Impfung erhalten, sie müssen zusätzlich aktiv und intensiv aufgeklärt werden, damit sie dieses Vorrecht auch in Anspruch nehmen können. Sobald zu einem späteren Zeitpunkt die Impfstoffknappheit beseitigt ist, müssen breite Teile der Bevölkerung zur Impfung motiviert werden, weil eine dauerhaft effektive Kontrolle der Pandemie erst ab einer Impfrate von mindestens 60–70 % erreicht werden kann.

Die speziellen Herausforderungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Impfung im Bereich der psychiatrischen Versorgung werden im Folgenden aus psychiatrischer Perspektive diskutiert.

1. Anerkennung als Risikogruppe

Menschen mit psychischen Erkrankungen sind in der Impfverordnung des BMG als Risikogruppen anzuerkennen.

Menschen mit Demenzen und anderen schweren psychischen Erkrankungen haben erwiesenermaßen ein erhöhtes Risiko, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren, an COVID-19 mit schwerem Verlauf zu erkranken und daran zu versterben (STIKO-Impfempfehlungen, DGPPN-Policy Brief). Somatische Begleiterkrankungen wie Übergewicht und Diabetes, unter denen schwer psychisch kranke Menschen besonders häufig leiden, erhöhen dieses Risiko weiter, ebenso wie prekäre Lebensverhältnisse, z. B. Obdachlosigkeit. Das Risiko, sich selbst anzustecken und die Erkrankung weiterzugeben, steigt auch durch krankheitsbedingte Verhaltensänderungen, die die Fähigkeit beeinträchtigen können, Hygieneregeln einzuhalten. Schließlich gehen schwere psychische Erkrankungen häufig mit Beeinträchtigungen des Hilfesucheverhaltens und der aktiven Auseinandersetzung mit gesundheitlichen Themen einher, woraus ein Informationsdefizit und damit eine höhere Schwelle für die Inanspruchnahme medizinischer Behandlung folgen. Menschen mit Demenz und geistiger Behinderung werden nach den Empfehlungen der STIKO einer hohen Stufe der Priorisierung für eine COVID-19-Impfung zugeordnet (Stufe 2 von 6). Dieser Empfehlung folgt die Impfverordnung des BMG vom 15.12.2020, indem sie Menschen mit Demenz oder geistiger Behinderung bei der Gruppe mit hoher Priorität für eine Schutzimpfung berücksichtigt (Gruppe 2). Nach den Empfehlungen der STIKO werden Menschen mit anderen schweren psychischen Erkrankungen (bipolare Störung, Schizophrenie und schwere Depression) der vierten Stufe der Priorisierung für eine COVID-19-Impfung zugeordnet. Damit werden sie der gleichen Gruppe zugeteilt wie Menschen mit immunkompromittierenden Erkrankungen, Diabetes mellitus, COPD, Krebserkrankungen, arterieller Hypertonie, HIV-Infektion, Koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz, zerebrovaskuläre Erkrankungen/Apoplex, Autoimmunerkrankungen, Asthma bronchiale u. a. Die Impfverordnung des BMG folgt den Empfehlungen der STIKO hier nur zum Teil. Denn bei der Gruppe mit erhöhter Priorität für eine Schutzimpfung (§ 4 der Coronavirus-Impfverordnung) werden lediglich Menschen mit chronischen somatischen Erkrankungen aufgeführt, aber keine Menschen mit psychischen Erkrankungen. Dies muss entsprechend der Evidenzlage und der STIKO-Empfehlung angepasst werden.

2. Information und Aufklärung der Betroffenen

Politik, Fach- und Selbsthilfeverbände müssen Menschen mit psychischen Erkrankungen als wichtige Zielgruppe für Information und Aufklärung über COVID-19, Hygienemaßnahmen und die Möglichkeit der Impfung erkennen und ansprechen, sowie die sie aktiv über die Verfügbarkeit und Sinnhaftigkeit eine individuellen Impfung und einer möglichst hohen Impfquote informieren.

Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen nehmen Vorsorge-, Diagnostik- und Behandlungsangebote für somatische Erkrankungen seltener in Anspruch als nicht psychisch Erkrankte. Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass zumindest ein Teil der Menschen mit psychischen Erkrankungen weniger Angebote entsprechender somatischer Versorgungsleistungen erhält als nicht psychisch Erkrankte. Es ist anzunehmen, dass sich ähnliche Barrieren zumindest auf Seiten der Patienten in Bezug auf die Inanspruchnahme der COVID-19-Schutzimpfungen zeigen werden. Diese Barrieren müssen beseitigt und fördernde Faktoren zielgerichtet ausgebaut werden, um eine ausreichende Impfquote der psychisch Erkrankten zu erreichen.

3. Impfung während des stationären Aufenthalts

In psychiatrischen Kliniken sollten Patienten eine Impfung in Anspruch nehmen können.

Der stationäre Aufenthalt bietet die Chance, Patienten zu informieren und zu einer Impfung zu motivieren. Wenn die Kliniken Informationen und Impfmöglichkeiten vorhalten, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Patienten auch tatsächlich impfen lassen. Viele Patienten sind für längere Zeit in der Klinik, sodass u. U. sogar die Impfung mit einer zweiten Dosis abgeschlossen werden kann. In jedem Fall kann die Zweitimfpung gebahnt und ggf. terminiert werden. Diese Wahrscheinlichkeit sinkt voraussichtlich stark, sobald sie sich wieder in ihrem gewohnten Lebensumfeld befinden. Solange der Impfstoff nicht in ausreichender Menge vorhanden ist, müssen auch Impfungen in Kliniken den Regeln der Priorisierung folgen.

4. Impfung bei Selbstbestimmungsunfähigkeit

Menschen mit einer psychischen Erkrankung, die aktuell nicht selbstbestimmungsfähig sind, sollten im Rahmen der üblichen rechtlichen Vorgaben eine Impfung erhalten können.

Für die Impfung von nicht einwilligungsfähigen Patienten gegen COVID-19 müssen dieselben Regeln gelten, wie für jede andere Behandlung. Wenn eine klare medizinische Indikation zur Impfung besteht – was überwiegend der Fall sein wird – und der Betreffende nicht rechtsgültig selbst einwilligen kann, aber der Impfung zustimmt oder ihr zumindest nicht widerspricht, muss der Betreuer oder Bevollmächtigte prüfen, ob sich Hinweise darauf finden, dass die Impfung nicht dem mutmaßlichen oder dem in einer Patientenverfügung vorausbestimmten Willen des Patienten entspricht. Ist dies nicht der Fall, ist darauf hinzuwirken, dass der Betreuer zustimmt – ggf. über die Betreuungsbehörde bzw. das Amtsgericht – und die Impfung kann durchgeführt werden. Für eine Impfung gegen den natürlichen Willen (im Sinne einer Zwangsbehandlung) des Betreffenden existiert aber keine Rechtsgrundlage und sie erscheint auch ethisch nicht vertretbar. Eine Zwangsimpfung wäre nur auf zivilrechtlicher Grundlage möglich, wenn dem Betroffenen ein erheblicher gesundheitlicher Schaden droht, der konkretisierbar ist und mit anderen Mitteln nicht abwendbar ist. Dies ist bei einer Schutzimpfung nicht der Fall. 

5. Priorisierung für Mitarbeitende in der psychiatrischen Versorgung

Mitarbeitende in der psychiatrischen Versorgung sowie in Einrichtungen der Eingliederungshilfe oder in ambulanten Betreuungs- oder Behandlungseinrichtungen, die schwer psychisch kranke Menschen behandeln oder betreuen, sollen in ähnlicher Weise prioritär geimpft werden, wie Mitarbeitende auf Intensivstationen, in Notfallaufnahmen und im Rettungsdienst.

Mitarbeitende im Gesundheitswesen gelten als eine Personengruppe mit einem erhöhten Risiko für eine SARS-CoV-2-Infektion und gleichzeitig als eine Gruppe, die im professionellen Kontakt Infektionen auf andere Mitarbeitende und auf Patienten einschließlich Risikopatienten übertragen kann. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen dabei Mitarbeitende auf Intensivstationen, auf speziellen COVID-Stationen, in Notaufnahmen und in Alten- und Pflegeheimen. Wenig Beachtung findet bisher die Tatsache, dass auch Mitarbeitende von Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie, von Einrichtungen der Eingliederungshilfe und von ambulanten Versorgungseinrichtungen für schwer psychisch Erkrankte regelhaft hohen Risiken ausgesetzt sind. Dies betrifft vor allem solche Mitarbeitende, die psychisch kranke Menschen betreuen, die mit SARS-CoV-2 infiziert bzw. an COVID-19 erkrankt sind oder solche, die Patienten betreuen, die krankheitsbedingt Hygieneregeln nicht einhalten können oder die auf Stationen arbeiten, bei welchen ein enger physischer Kontakt zu Patienten zum Teil unvermeidbar ist: also Mitarbeitende von COVID-Bereichen in psychiatrischen Kliniken, von gerontopsychiatrischen, Aufnahme- und beschützenden Stationen, in psychiatrischen Institutsambulanzen und in psychiatrischen Praxen.
 

6. Schutz vor Stigmatisierung

Werden von staatlichen Stellen (z.B. Impfzentren) ärztliche Atteste verlangt, um die Zugehörigkeit zu Risikogruppen zu belegen, sollen diese keine Informationen zur konkreten Erkrankung/Diagnose enthalten müssen, um einer Stigmatisierung der Betroffenen vorzubeugen.

Solange noch nicht genügend Impfstoff für alle bereit steht, die eine Impfung wünschen, muss im Rahmen der Priorisierung die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe ggf. gegenüber Behörden nachgewiesen werden. Typischerweise wird die durch ein ärztliches Attest erfolgen, wenn die Priorisierung aufgrund einer medizinischen Risikokonstellation erfolgt. Solche Atteste sollten grundsätzlich nur die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Risikogruppe bescheinigen müssen und keine konkrete Diagnose. Andernfalls besteht die Gefahr, dass insbesondere Menschen mit einer psychischen Erkrankung stigmatisiert werden, oder schon aus Angst vor Stigmatisierung eine bevorzugte Impfung ablehnen.

 

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