Mehr als 55.000 Menschen in Deutschland sitzen derzeit in Justizvollzugsanstalten (JVAs) ein. Schätzungen zufolge leiden 50 % bis 75 % von ihnen unter mindestens einer psychischen Erkrankung. Berichten zufolge ist davon auszugehen, dass ihre psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung unzureichend ist. Welche Mittel und Ressourcen in den Gefängnissen tatsächlich für Diagnostik und Therapie der Gefangenen bereitstehen und aufgewendet werden, ist bislang weitestgehend unklar. Eine Umfrage der DGPPN bemüht sich um Aufklärung.
Prof. Dr. Jürgen Müller
Mitglied im Vorstand der DGPPN, Leiter des DGPPN-Referats Forensische Psychiatrie und der DGPPN-Task-Force Gefängnispsychiatrie:
„An unserer Umfrage im Frühjahr 2024 haben sich insgesamt 137 Justizvollzugsanstalten (JVAs) beteiligt, das waren 78 % der angeschriebenen Anstalten. Zum Stichtag 01.03.2024 waren in diesen Anstalten 41.173 Personen inhaftiert.
Ziel der Online-Umfrage war es, ein klareres Bild der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung in deutschen (JVAs) zu bekommen: Werden psychische Störungen erkannt? Ist eine adäquate Diagnostik und Behandlung der betroffenen Häftlinge möglich? Welche Ressourcen stehen für ihre Versorgung bereit? Mit den Ergebnissen haben wir jetzt erste Daten zur Beantwortung dieser Fragen vorliegen.
112 von 130 Anstalten beurteilten die Versorgungsmöglichkeiten insgesamt als problematisch. Mehr als die Hälfte der befragten Einrichtungen gab an, die Ressourcen für ambulante Behandlungen deckten nicht den Bedarf. Noch kritischer sah es bezüglich stationärer oder teilstationärer Behandlungen aus.
11 % der Gefangenen waren innerhalb der letzten vier Wochen in fachärztlicher Behandlung, etwa 1 % erhielt eine Psychotherapie. Bei circa 1500 Gefangenen bestand nach ärztlicher Einschätzung eine Indikation für eine vollstationäre psychiatrische Behandlung; es konnte allerdings nur die Hälfte der Betroffenen auch in eine entsprechende Einrichtung verlegt werden.
Was in den einzelnen Einrichtungen unter Psychotherapie oder psychiatrischer Behandlung oder gar ausreichender Versorgung verstanden wird, ist allerdings nicht immer eindeutig. Denn aufgrund der Vielfalt der befragten Einrichtungen – von Untersuchungshaft über Sozialtherapie bis zur Sicherheitsverwahrung – variieren die Behandlungskonzepte stark. Was aber eindeutig ist: Die Ressourcen für die Versorgung von Gefangenen mit psychischen Erkrankungen in JVAs werden als nicht ausreichend eingeschätzt. Nicht in allen Einrichtungen können eine als angemessen erachtete Diagnostik und Behandlung umgesetzt werden. Es besteht Handlungsbedarf.
Handlungsbedarf besteht weiterhin auch im Maßregelvollzug. Mit unserer Umfrage vor zwei Jahren haben wir konkrete Zahlen vorliegen, die den Bedarf belegen. Seitdem ist es nicht besser geworden – im Gegenteil. Wir haben in den Kliniken zunehmend Schwierigkeiten, ärztliches Personal zu finden, müssen aber immer mehr Patientinnen und Patienten behandeln – insbesondere vorläufig untergebrachte Menschen mit einer Schizophrenie. Wir fordern deshalb die Einrichtung einer interdisziplinären Kommission, die sich lösungsorientiert mit der Zukunft des Maßregelvollzugs beschäftigt.“
DGPPN-Experte: Prof. Dr. Jürgen Müller
Der Leiter des DGPPN-Referats Forensische Psychiatrie und der DGPPN-Task-Force Gefängnispsychiatrie vertritt die Forensische Psychiatrie im Vorstand der DGPPN. Er leitet die Asklepios Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie in Göttingen und hat die Schwerpunktprofessur Forensische Psychiatrie und Psychotherapie an der dortigen Universität inne.
Stand: November 2024
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