Die meisten psychischen Erkrankungen können heute sehr gut behandelt werden. Bislang war die Auswahl an Therapiemethoden allerdings begrenzt, auch Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie konnten nur selten Angebote machen, die über Medikation und Psychotherapie hinausgehen. Heute aber gibt es zunehmend neue Techniken, mit denen Psychotherapie ergänzt und verstärkt werden kann. Insbesondere die modernen Neurostimulationsmethoden bieten neue Behandlungschancen. Deshalb stellt sich heute vermehrt die Frage: Welche Behandlung ist wann für welchen Patienten und welche Patientin die richtige?
Prof. Dr. Andreas J. Fallgatter
Mitglied im Vorstand der DGPPN und Sprecher des Standortes Tübingen des Deutschen Zentrums für Psychische Gesundheit (DZPG):
„Psychotherapie wirkt. Das wissen wir. Wir sind heute in der glücklichen Lage, für fast alle psychischen Erkrankungen Behandlungen zu haben, die gute Effekte zeigen, gerade bei schweren Krankheitsausprägungen. Wenn allerdings eine Behandlung nicht anspricht oder – aus welchen Gründen auch immer – für jemanden nicht in Frage kommt, wird es schnell schwierig, denn die Auswahl der Methoden ist beschränkt. Zum Glück können wir das Repertoire, das uns zur Verfügung steht, gerade deutlich erweitern. Insbesondere die neuen Neurostimulationsmethoden wecken Hoffnung.
Sie basieren auf der Tatsache, dass psychische Erkrankungen nicht nur durch psychologische und soziale Faktoren beeinflusst werden, sondern auch neurobiologische Ursachen haben. Eine Dysbalance in bestimmten Hirnregionen kann den Heilungsprozess erschweren. Mit Neurostimulation kann der Aktivitätszustand in verschiedenen Bereichen des Gehirns gezielt verändert werden; so kann man dabei helfen, einen Zustand zu erreichen, in dem Reize angemessener verarbeitet werden können. Ein depressiver Patient beispielsweise kann negative Gefühle nicht gut ausblenden, da sein präfrontaler linker Kortex typischerweise nur eine geringe Aktivität zeigt. Mit der repetitiven Transkraniellen Magnetstimulation (rTMS) wird die neuronale Plastizität gezielt in der stimulierten Hirnregion durch starke, pulsierende Magnetfelder angeregt. Durch eine wiederholte, aktivierende Stimulation steigt die Nervenzellaktivität und damit die Fähigkeit, negative Gefühle zu filtern und auszublenden. Das gegenteilige Vorgehen empfiehlt sich bei Halluzinationen im Rahmen einer Psychoseerkrankung: Eine Patientin mit akustischen Halluzinationen hat typischerweise einen hyperaktiven akustischen Kortex. Mit rTMS kann die Aktivität in der entsprechenden Hirnregion gesenkt werden. Das reduziert die akustischen Halluzinationen der Patientin.
Leider werden diese Behandlungen bislang in den Leitlinien nur in therapieresistenten Behandlungssituationen empfohlen und sind nicht flächendeckend verfügbar. Zudem ist unklar, wie die verschiedenen Behandlungsverfahren am effektivsten angewandt bzw. kombiniert werden sollten.
Diese Frage untersuchen wir derzeit in verschiedenen Studien; sie ist alles andere als trivial. Denn die Variationsmöglichkeiten sind nahezu endlos. Welche Behandlungen kombiniere ich in welcher Reihenfolge, Art und Frequenz? Welche biologischen, psychologischen und sozialen Merkmale der Patientinnen und Patienten sind für die Wirksamkeit entscheidend? Wie lässt sich das Gehirn z.B. mit Stimulationsmethoden in einen optimalen Zustand für eine erfolgreiche Psychotherapie bringen? Mit herkömmlichen statistischen Methoden lässt sich das nicht beurteilen. Dazu braucht es moderne Methoden der Computational Psychiatry, wie zum Beispiel das Machine Learning, das dabei hilft, komplexe Muster in Daten zu erkennen. Voraussetzung dafür sind wiederum gute und ausreichend große Datensätze. Am Deutschen Zentrum für Psychische Gesundheit (DZPG) bauen wir solche gerade auf. Zukünftig können wir uns dann vielleicht direkt bei der Erstaufnahme eines Patienten die Daten anschauen und konkrete Vorhersagen darüber machen, welche Behandlungen wir dieser Person mit welcher Erfolgsaussicht empfehlen können.“
DGPPN-Experte: Prof. Dr. Andreas J. Fallgatter
Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie ist Mitglied im Vorstand der DGPPN und leitet die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tübingen. Er ist Sprecher des DZPG-Standorts Tübingen und forscht dort insbesondere an Methoden der Neuromodulation und Enhanced Psychotherapie, die mit Verfahren der Computational Psychiatry optimal aufeinander abgestimmt und in ein multimodales, individualisiertes Behandlungskonzept integriert werden, um eine Präzisionspsychiatrie und -psychotherapie zu erreichen.
Stand: November 2024
Mehr erfahren