24.11.2021 | Pressemitteilung

Digitale Transformation wissenschaftsbasiert gestalten

E-Mental-Health-Apps, digitale Phänotypisierung, Big Data, KI oder Robotik: Die digitale Transformation ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit und verändert auch den medizinischen Versorgungsalltag. Insbesondere im Bereich der sprechenden Medizin kam es durch die Pandemie zu einem enormen Digitalisierungsschub – mit positiven praktischen Konsequenzen in einer Zeit, in der die psychische Belastung durch die pandemische Lage hoch ist. Aber es gibt auch eine Vielzahl ethischer und rechtlicher Risiken, vom Datenmissbrauch bis zur Entmenschlichung der Arzt-Patienten-Beziehung. Der DGPPN Kongress, wichtigster Expertengipfel für psychische Gesundheit, thematisiert all diese Entwicklungen vom 24. bis 27. November 2021 im CityCube Berlin.

Digitale Lösungen können so manche Einschränkung der Corona-Pandemie abfedern und so hat der Gesetzgeber in den vergangenen Monaten Möglichkeiten geschaffen, um den Gesundheitssektor weiter zu transformieren: Das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) bildet die Rechtsgrundlage für den Anspruch der Versicherten auf die Versorgung mit digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA), sogenannte „Apps auf Rezept“. Ihre Vorteile liegen auf der Hand, denn digital unterstützte Anwendungen sind zeitnah und „berührungsfrei“ zugänglich, dadurch sinkt die Hemmschwelle, Wartezeiten bis zum Beginn einer persönlichen Behandlung können überbrückt werden. Aktuell sind im DiGAVerzeichnis vor allem Anwendungen zur Prävention, Behandlung oder Nachsorge psychischer Erkrankungen enthalten, was die Relevanz digitaler Interventionen im Bereich Psychiatrie und Psychotherapie illustriert. Die Anforderungen an deren Wirksamkeit entsprechen jedoch aktuell noch nicht dem Grundsatz der evidenzbasierten Medizin in Deutschland. Deshalb fordert die DGPPN, dass der medizinische Nutzen sowie der positive Versorgungseffekt mindestens in einer randomisiert-kontrollierten Studie nachgewiesen werden müssten, bevor eine DiGA in die Regelversorgung aufgenommen wird.

Auch die Videobehandlung hat durch die Pandemie an Bedeutung gewonnen. Laut dem Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz (DVPMG) können im Quartal nun bis zu 30 % ärztlicher und psychotherapeutischer Leistungen via Videosprechstunde erbracht werden. Mehrere empirische Studien konnten nachweisen, dass das klinische Ergebnis von Psychotherapie im Videoformat vergleichbar ist mit dem Präsenzformat.

Evidenzbasierte Online-Angebote können die face-to-face-Behandlung zwar nicht ersetzen, aber bei weniger schwerwiegenden Symptomen oder für Menschen mit großer Hemmschwelle ein hilfreiches Angebot und eine gute Ergänzung darstellen. Die Empfehlung der DGPPN lautet hier, Erstgespräche immer persönlich stattfinden zu lassen und die weitere Behandlung optional und auf Basis der ärztlichen Einschätzung und orientiert am individuellen Bedarf des Patienten durch digitale Gesundheitsanwendungen zu ergänzen. Aber es braucht auch Langzeitstudien über die positiven und negativen Effekte solcher Techniken auf die Patientenversorgung.

Obschon die pandemische Situation vor dem Hintergrund der Kontaktbeschränkungen teilweise durch den Einsatz digitaler Hilfsmittel gut aufgefangen werden konnte, hat die andauernde Situation viele Menschen an ihre Belastungsgrenzen gebracht. Angst vor Ansteckung, Existenzsorgen und soziale Isolation haben viele Menschen verunsichert. Die Auswirkungen der Pandemie auf die Psyche werden aktuell untersucht. Insbesondere Menschen mit einer bestehenden psychischen Erkrankung hat die Pandemie sehr hart getroffen und das Risiko einer Verschlechterung des Krankheitsverlaufs erhöht. Aus Sicht der Experten der DGPPN, die dem Kompetenznetzwerk „Public Health COVID-19“ angehören, sollte das psychosoziale Krisenmanagement sowohl allgemeine Initiativen zum Erhalt und zur Förderung der psychischen Gesundheit der Bevölkerung beinhalten als auch besondere Maßnahmen für Patienten mit psychischen Vorerkrankungen und für Menschen in akuten psychischen Notlagen.

Um die psychische Gesundheit im Rahmen von Pandemien zukünftig besser schützen zu können, entsteht derzeit eine neue S3-Leitlinie unter Federführung der DGPPN. Zielsetzung der 2022 erscheinenden Leitlinie ist es, evidenzbasierte Informationen zur psychischen Belastung durch COVID-19 zu geben sowie Empfehlungen zur Aufrechterhaltung der psychischen Gesundheit bzw. Hilfestellungen bei Gefährdung derselben. Angesichts des täglich zunehmenden Wissens wird angestrebt, die Leitlinie im Sinne einer „Living Guideline“ laufend zu aktualisieren.

Statements

 

„Die Digitalisierung eröffnet neue Wege in der Behandlung. DiGAs und Virtual Reality helfen dabei, Wartezeiten bis zu einer Therapie zu überbrücken oder beispielsweise Expositionen bei Angststörungen mit geringem Aufwand umzusetzen. Wichtig ist, die Qualitätskriterien hinsichtlich der Wirksamkeit, der Patientensicherheit und des Datenschutzes zu berücksichtigen, damit Patienten und Behandler tatsächlich nur solche Tools nutzen, die auch hilfreich sind.“

Prof. Dr. Peter Zwanzger
Leiter des DGPPN-Referats „Digitale Psychiatrie und Psychotherapie“ und Ärztlicher Direktor kbo-Inn-Salzach-Klinikum und Chefarzt Allgemeinpsychiatrie und Psychosomatische Medizin sowie Präsident der Gesellschaft für Angstforschung

 

„Studien zeigen, dass die psychischen Folgen der COVID-19-Pandemie immens sind. Das trifft die Allgemeinbevölkerung mit erhöhten Raten für Depressivität, Angst und Belastung zu – hier trifft es besonders die jüngeren Menschen. Aber es trifft auch psychisch kranke Menschen in vieler Hinsicht, insbesondere wenn wir an notwendige Behandlungen, zum Beispiel mit psychosozialen Therapien denken. Es ist unverzichtbar, dass die Maßnahmen des Infektionsschutzes psychische Belastungen von Anfang an mitdenken. Psychische Gesundheit muss zentrales Element eines Pandemiemonitorings und -managements sein – und zwar von Beginn an. Es braucht für die Zukunft tragfähige Konzepte für ein verantwortungsvolles Krisenmanagement, um auch die Schwächsten in der Krise zu schützen.“

Prof. Dr. Steffi G. Riedel-Heller, MPH
DGPPN-Vorstandsmitglied und Direktorin des Instituts für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health in Leipzig

 

„Derzeit wird unter Federführung der DGPPN eine Leitlinie erstellt, die das Wissen rund um psychische Gesundheit in der COVID-19-Pandemie systematisch aufbereitet und daraus evidenzbasierte Empfehlungen ableitet. Angestrebt ist, die Leitlinie im Sinne einer „Living Guideline“ laufend zu aktualisieren. Denn die Wissenschaft präsentiert fast täglich neue Daten zu dem dynamischen Geschehen in der andauernden Pandemie.“

Prof. Dr. Klaus Lieb
Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Leibniz-Instituts für Resilienzforschung, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz

 

„Es ist Aufgabe der DGPPN, den Digitalisierungsprozess auf allen Ebenen weiter zu begleiten und sich weiterhin für eine Evidenzbasierung digitaler Anwendungen sowie das Einhalten ethischer Standards stark zu machen. Die Psychiatrie als personenzentrierte Disziplin geht von den Wünschen der Patienten, ihren Möglichkeiten und Ressourcen aus. Insofern können digitale Angebote eine sinnvolle Ergänzung sein, die die klassischen Behandlungsangebote im Sinne einer tragfähigen therapeutischen Beziehung aber niemals ersetzen.“

Prof. Dr. Thomas Pollmächer
DGPPN-Präsident und Direktor des Zentrums für psychische Gesundheit sowie Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I in Ingolstadt

 

Digitale Transformation und psychische Gesunheit ist das Thema des DGPPN Kongress. Dieser findet in diesem Jahr vom 24. bis 27. November 2021 als im CityCube Berlin statt. Journalisten können sich vorab kostenfrei akkreditieren.

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