01.06.2022 | Stellungnahme

Eckpunkte für eine Neuregelung der Suizidassistenz

Mit seinem Urteil vom 26.02.2020 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das bisherige Verbot geschäftsmäßiger Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB) für nichtig erklärt, zugleich aber detaillierte Rahmenbedingungen für eine gesetzliche Neuregelung benannt, um den auch von ihm gesehenen Gefahren einer unregulierten Suizidbeihilfe zu begegnen. Insbesondere an die Freiverantwortlichkeit, also die Selbstbestimmtheit, Dauerhaftigkeit und Ernsthaftigkeit des Suizidwunsches sind nach den Vorgaben des BVerfG hohe Anforderungen zu stellen. 

Bei einem Großteil der tödlichen Suizidhandlungen liegen psychische Erkrankungen vor, insbesondere in Form von Depressionen (BVerfG Rn. 245). Neben der Beeinflussung durch eine psychische Störung (Rn. 241, 245) können laut BVerfG auch mangelnde Informiertheit, Aufklärung und Beratung (Rn. 242, 246), mangelnde Dauerhaftigkeit/innere Festigkeit (Rn. 244, 340) und psychosoziale Einflussnahmen/Pressionen (Rn. 243, 247, 250 f.) die Freiverantwortlichkeit einer Entscheidung einschränken. Die vom BVerfG benannten umfassenden und strengen Kriterien der Freiverantwortlichkeit gelten speziell für die hier definierten Fälle von assistiertem Suizid und können auf andere Sachverhalte und Rechtsbereiche nicht übertragen werden.  

Unter diesen Umständen kann die Suizidbeihilfe nicht freigegeben werden, ohne die besondere Situation und Vulnerabilität der Betroffenen in den Blick zu nehmen und entsprechende Mechanismen zu ihrem Schutz vorzusehen. Das BVerfG sieht den Staat – im Einklang mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Entschluss, begleiteten Suizid zu begehen, tatsächlich auf einem freien Willen beruht (Rn. 232, 305).  

Das BVerfG hat einerseits klargestellt, dass niemand verpflichtet werden kann, Suizidassistenz zu leisten (Leitsatz und Rn. 342), und andererseits festgestellt, dass die vom Gesetzgeber zu treffenden prozeduralen Maßnahmen jedoch auch nicht dazu führen dürfen, dass das Recht auf Suizidassistenz faktisch entleert wird (Rn. 264, 267).  

Die DGPPN betont, dass Suizidassistenz keine ärztliche Aufgabe ist. Suizidassistenz, also die Verschaffung und Bereitstellung eines Mittels zum Suizid, stellt keine medizinische Behandlungsoption dar. Vielmehr schreibt die Musterberufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte fest, dass es ihre Aufgabe ist, „das Leben zu erhalten, die Gesundheit zu schützen und wiederherzustellen, Leiden zu lindern, Sterbenden Beistand zu leisten […]“. Dies bekräftigte auch der 124. Ärztetag 2021 indem zwar das berufsrechtliche Verbot der ärztlichen Suizidbeihilfe aufgehoben, aber weiterhin betont wurde, dass die Suizidassistenz keine ärztliche Aufgabe ist. 

Aus Sicht der DGPPN sollte ein „legislatives Schutzkonzept“ in dem vom BVerfG festgelegten Rahmen, das die Selbstbestimmung der Betroffenen respektiert, sie aber dort, wo die Selbstbestimmung eingeschränkt ist, vor einem irreversiblen Schritt wie dem Suizid schützt, folgende Prinzipien und Elemente aufweisen. 

Gerichtliches Verfahren – Gerichtliche Entscheidung 
Das Verfahren zur Prüfung der Freiverantwortlichkeit, also der Selbstbestimmtheit, Dauerhaftigkeit und Ernsthaftigkeit des Suizidwunsches (BVerfG Rn. 241-247) und die Überwachung der Einhaltung prozeduraler Vorgaben sollte durch das zuständige Amts- bzw. Betreuungsgericht gewährleistet werden. Das Verfahren sollte obligatorische fachärztliche Untersuchungen, Beratung und Aufklärung der Betroffenen beinhalten. Eines von zwei unabhängigen fachärztlichen Gutachten zur Frage der Freiverantwortlichkeit muss von einem Sachverständigen mit fachärztlicher psychiatrischer Kompetenz eingeholt werden. Die abschließende Feststellung der Freiverantwortlichkeit und Entscheidung über die Suizidassistenz sind Aufgaben des Gerichts. 

Fachärztliche Beratung und Aufklärung 
Eine umfassende und mehrzeitige suizidpräventiv ausgerichtete fachärztliche Beratung und Aufklärung hinsichtlich möglicher Entscheidungsalternativen und Behandlungsoptionen ist obligatorisch und soll sicherstellen, dass der Suizidwillige seine Entscheidung in Kenntnis aller erheblichen Umstände und Optionen trifft. Dies umfasst Informationen zu suizidpräventiven (Krisen-)Interventionen, Konfliktberatung, Familien- oder Paartherapie, Schmerzbehandlung, Palliativmedizin und häuslicher Hospizbetreuung. Je nach individueller Lebenssituation und etwa vorhandenen körperlichen Erkrankungen müssen zur fachkundigen Aufklärung und Beratung auch spezialisierte Fachärzte zugezogen werden (z. B. Neurologen bei Amyotropher Lateralsklerose (ALS), Palliativmediziner bei Tumorerkrankten). 

Fachärztliche Begutachtung 
Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Freiverantwortlichkeit der Suizidentscheidung muss in zwei Untersuchungen, im Mindestabstand von 3 Monaten, durch zwei unabhängige Fachärztinnen oder -ärzte, von denen mindestens eine Person über die Facharztbezeichnung für Psychiatrie und Psychotherapie verfügt, festgestellt werden. Bei nachweislich terminal erkrankten Menschen mit hohem Leidensdruck kann auf das zweite Gutachten verzichtet werden. Die Gutachten sollten neben der Beurteilung möglicher psychischer Störungen auch Aussagen über die Informiertheit, Dauerhaftigkeit und mögliche psychosoziale Pressionen enthalten. Ähnlich wie bei den Fragen nach der Geschäfts- oder Schuldfähigkeit kann die Freiverantwortlichkeit nicht positiv attestiert, sondern es kann lediglich festgestellt werden, ob nach gründlicher Abklärung eine oder mehrere der hierfür erforderlichen Qualitäten beeinträchtigt sind oder nicht. Die Begutachtung der suizidwilligen Person muss persönlich erfolgen; eine Begutachtung nach Aktenlage muss ausgeschlossen sein. 

Bei Einschränkung der Freiverantwortlichkeit nahtlose Hilfen 
Wird festgestellt, dass die Freiverantwortlichkeit eingeschränkt ist, sind dem Betroffenen die je nach individueller Problemlage angemessenen Hilfestellungen zum Leben nicht nur anzuraten, sondern unverzüglich zu vermitteln. 

Trennung von Institutionen 
Beratung, Begutachtung und Durchführung der Sterbehilfe sollen von unterschiedlichen und voneinander unabhängigen Personen und Institutionen durchgeführt werden. Die Elemente des Schutzkonzeptes müssen unabhängig von den Personen gelten, die sich assistierend an der suizidalen Handlung beteiligen, also auch dann uneingeschränkt, wenn diese Personen Angehörige oder „Nahestehende“ sind. 

Wartefristen 
Eine konkrete Wartefrist zwischen Beratung und Vollzug der Suizidassistenz sollte eingeführt werden, insbesondere wenn keine terminale Erkrankung vorliegt. Bei Fehlen einer terminalen Erkrankung empfiehlt sich eine Wartezeit von sechs Monaten. Im Fall einer terminalen Erkrankung sollte eine kürzere Wartezeit ermöglicht werden. 

Verhinderung besonders gefahrenträchtiger Angebote der Suizidbeihilfe und Förderung suizidpräventiver Maßnahmen 
Neben den Maßnahmen zur Prävention nicht freiverantwortlich begangener Suizide im Einzelfall ist der Gesetzgeber vom BVerfG aufgerufen, die Gesellschaft vor Gefahren zu schützen, die von unregulierten Angeboten geschäftsmäßiger (oder gar gewerbsmäßiger) Suizidassistenz ausgehen (z. B. Rn. 227-233, 235, 236, 239, 248-251, 257, 305). Diesbezüglich sollten einschlägig erfahrene Experten aus den Fachgebieten Psychiatrie, Psychotherapie und Suizidologie den Gesetzgeber über besonders gefahrenträchtige Angebote sowie angemessene Maßnahmen zur Suizidprävention beraten.  
Als besonders gefahrenträchtig für die freie Willensbildung und die autonome Entscheidungsfindung (Rn. 230) sind zweifellos diejenigen geschäftsmäßigen Suizidbeihilfeorganisationen anzusehen, bei denen Leistungen im Vordergrund stehen, die der Durchführung des Suizids dienen (Rn. 249-251). Aus psychiatrischer Sicht sollte daher dringend erwogen werden, keine Organisationen zuzulassen, die einseitig auf die Assistenz zur Selbsttötung ausgerichtet sind und die nicht ein Spektrum alternativer Hilfemöglichkeiten anbieten, das der Bewältigung individueller Lebensprobleme dient bis hin zu palliativer Behandlung oder häuslicher Hospiz-Begleitung am Lebensende. 

Es ist davon auszugehen, dass einseitig ausgerichtete Suizidbeihilfeorganisationen eine idealisierende Stilisierung als „Freitod“ usw. propagieren, die ein Klima der Normalisierung, wenn nicht gar Heroisierung des assistierten Suizids fördern („Framing“). Den Gefahren gesellschaftlicher Erwartungshaltungen, autonomiegefährdender sozialer Pressionen und einer Normalisierung der Suizidassistenz möchte das BVerfG explizit begegnet wissen (Rn. 229f, 235, 250). Hier könnten u. a. „Werbeverbote“, attraktive Gegenmodelle, Öffentlichkeitskampagnen etc. hilfreich sein. 

Evaluierung und Forschung 
Es sollte ein bundesweites Register für Anträge auf Suizidassistenz aufgebaut werden, das alle mit dem Fall zusammenhängenden und relevanten Daten inklusive des Ausganges erfasst. Die entsprechenden Statistiken sollen jährlich veröffentlicht werden und für Forschungszwecke zugänglich sein. Grundlagen und Struktur des Registers sollen mit Fach- und Datenschutzexperten erarbeitet werden. Das Gesetz und dessen Folgen sind nach spätestens fünf Jahren unabhängig wissenschaftlich zu evaluieren. Dafür sind die notwendigen finanziellen Mittel bereitzustellen 

 

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