Die neue Regierung hat im Koalitionsvertrag eine kontrollierte Abgabe von Cannabis („Cannabis-Legalisierung“) geplant. Diese politische Entscheidung muss aus Sicht der DGPPN eng medizinisch-wissenschaftlich beraten und begleitet werden, um die Gesundheitsrisiken zu minimieren und einer Zunahme des Cannabiskonsums entgegenzuwirken [1]. Hierbei sind die Prävention, die Sicherstellung des Jugendschutzes, die Ausweitung von Maßnahmen zur Früherkennung und Frühintervention bei psychischen Erkrankungen sowie eine wissenschaftliche Begleitforschung zwingend geboten.
Executive Summary
Aufgrund der hohen Gesundheitsrisiken darf eine kontrollierte Abgabe von Cannabis nicht zu mehr konsumierenden, abhängigen und psychisch erkrankten Menschen führen. Die wichtigsten Maßnahmen betreffen daher Prävention, Jugendschutz, spezifische Beratungs-/Behandlungsangebote, Begleitforschung und Finanzierung.
Cannabis ist die am weitesten verbreitete illegale Droge in Deutschland. Vier von zehn jungen Erwachsenen (15–24 Jahre) haben bereits Cannabis konsumiert – Tendenz steigend [2]. In den meisten europäischen Ländern hat der Cannabiskonsum in den letzten Jahren zugenommen [2, 3]. Diese Entwicklung hängt von verschiedenen Faktoren ab. Die Rolle einer regulierten Freigabe von Cannabis ist nicht klar; dennoch liefern aktuelle Forschungsergebnisse Hinweise darauf, dass eine Cannabislegalisierung die Zahl der regelmäßigen Konsumenten und in der Folge die Zahl der Menschen erhöhen kann, die cannabisbezogene Störungen und Folgeerkrankungen entwickeln [4, 5].
Vor diesem Hintergrund muss sichergestellt werden, dass die kontrollierte Abgabe von Cannabis nicht zu mehr konsumierenden, abhängigen und psychisch erkrankten Menschen führt und Kinder und Jugendliche effizient über die Risiken des Cannabiskonsums aufgeklärt und vor den negativen Folgen geschützt werden.
Aus suchtmedizinisch-psychiatrischer Sicht sind die folgenden Ansprüche an eine kontrollierte Abgabe von Cannabis zu stellen [6]:
1. Verhaltensprävention
Problematischem Cannabiskonsum soll durch strukturelle Maßnahmen, welche sich in der Tabak- und Alkoholkontrolle als wirksam erwiesen haben, vorgebeugt werden [5]. Da die Umsetzung präventiver Strategien in Deutschland im internationalen Vergleich jedoch hinterherhinkt [7], sollen auch innovative Ansätze entwickelt, evaluiert und implementiert werden.
Dies betrifft generelle und zielgruppenspezifische sowie kultursensible Präventionsangebote wie z. B.:
2. Verhältnisprävention
Die Hirnreifung ist – mit großen interindividuellen Unterschieden – erst in der Mitte der dritten Lebensdekade abgeschlossen [9–11]. Körpereigene Cannabinoide (Endocannabinoide) und Cannabisrezeptoren sind essenziell in diesen Prozess involviert [12–14]. Aufgrund übereinstimmender klinischer Befunde zu erhöhtem Psychoserisiko und veränderter Reifung der Neuronen und der Myelinisierung bei frühem Cannabiskonsum, z. B. in der Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter in klinischen und experimentellen Studien, soll Cannabis vor dem Abschluss der Ausreifung des Gehirns nicht konsumiert werden [15–20].
Eine Altersgrenze über das 18. Lebensjahr hinaus erscheint auch sinnvoll, da in den letzten Jahren epigenetische Effekte von THC und anderen Cannabinoiden in der Adoleszenz fortdauernd bis in das Erwachsenenalter gefunden werden konnten [21]. Epigenetische Effekte z. B. nach Konsum von THC in der Adoleszenz können zu einer Hirnreifungsstörung mit Auswirkungen auf kognitive Leistungen und zu einem erhöhten Risiko für die Entwicklung von psychischen Erkrankungen führen sowie auf das Immunsystem wirken [22, 23].
Aus psychiatrischer und neurobiologischer Sicht und gegenwärtigem Stand des Wissens, soll die Altersgrenze des Zugangs nicht unter 21 Jahren liegen. Eine derartige Altersbegrenzung schließt über Cannabisrezeptoren vermittelte Folgeschäden auf das ausgereifte Gehirn jedoch nicht vollständig aus.
Eine Weitergabe von THC-Produkten, auch wenn sie legal erworben wurden, besonders an Personen unterhalb der Mindestaltersgrenze ist unter Strafe zu stellen. Des Weiteren sollen neue und verbesserte Maßnahmen des Kinder- und Jugendschutzes im Bereich von Cannabis, aber auch von Tabak und Alkohol entwickelt, evaluiert und angewendet werden.
Neben der direkten Zugangskontrolle über Altersbeschränkung sind weitere verhältnispräventive Maßnahmen erforderlich:
a) hohem THC-Gehalt (z. B. > 10 %) und niedrigem CBD-Gehalt, da diese ein besonders hohes Psychose-Induktions-Risiko beinhalten [24]. Zu diesem Aspekt muss jedoch eine weitergehende Forschung sowohl zu den Wirkungen von verschiedenen Konzentrationen von THC erfolgen als auch bzgl. der Wirkungen der verschiedenen zusätzlichen, mehr als 140 Cannabinoiden in Cannabis.
b) mit schlecht abschätzbarer Resorption (z. B. in THC-haltigen Lebensmitteln)
3. Begrenzung der Verfügbarkeit
Zur Vermeidung lokaler Häufungen von Abgabestellen, müssen, bezogen auf Einwohnerzahl und Infrastruktur, Regularien definiert werden, nach denen Kommunen entscheiden können. Auch die Option keine Cannabisausgabestelle einzurichten, muss möglich sein.
4. Ausbau spezifischer Beratungs-/Behandlungsangebote
Zum Ausbau und zur Etablierung, niedrigschwelliger, kultursensibler und flächendeckender (u. a. online) Beratungsangebote wird eine umfassende finanzielle Unterstützung notwendig sein.
5. Begleitforschung zu den Auswirkungen der Legalisierung von Cannabis
Eine umfassende Begleitforschung und Marktbeobachtungen sind insbesondere zu folgenden Aspekten geboten:
Vor dem Hintergrund der geplanten kontrollierten Freigabe von Cannabis fordert die DGPPN erneut die Etablierung und ausreichende finanzielle Ausstattung systematischer Forschungsprogramme in den genannten Bereichen.[1] Die Begleitforschung soll zeitnah starten, möglichst bereits vor der Verabschiedung des Gesetzes. Nur so können Veränderungen durch die neue Gesetzgebung zuverlässig erfasst werden.
[1] An dieser Stelle wird darauf hingewiesen, dass bereits in der DGPPN-Stellungnahme von 2016 zur Legalisierung des nicht-medizinischen Konsums mehr Forschung zu den Risikofaktoren für die verschiedenen psychopathologischen Wirkungen von Cannabis und zu deren Behandlung in Deutschland gefordert wurde; ferner wissenschaftliche Analysen besonders der kassenärztlichen sowie auch der rehabilitativen Versorgung bezüglich Prävalenz, Verlauf und Kosten cannabisbezogener Störungen in Deutschland sowie die Erforschung und Anwendung präventiver Maßnahmen. Hintergrund war, dass bereits damals die Konsumzahlen und die Behandlungszahlen cannabisbezogener Störungen in Rehabilitationseinrichtungen angestiegen waren. Bisher gibt es aber keine spezifischen finanziellen Unterstützungsprogramme für derartige Forschungsvorhaben, sodass diese gar nicht oder nur rudimentär in Deutschland durchgeführt werden.
6. Finanzierung
Es ist sicherzustellen, dass die Einnahmen aus dem Cannabisverkauf vollständig zur Förderung von Prävention und Jugendschutz sowie zur Suchtversorgung und -forschung verwendet werden.
Prof. Dr. med. Norbert Wodarz
PD Dr. rer. nat. Eva Hoch
Prof. Dr. med. Martin Driessen
Prof. Dr. med. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank
Prof. Dr. med. Anil Batra
Prof. Dr. med. Falk Kiefer
Prof. Dr. med. Dr. phil. Andreas Heinz
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Ursula Havemann-Reinecke
1. Havemann-Reinecke U, Hoch E, Preuss UW et al (2017) Zur Legalisierungsdebatte des nicht-medizinischen Cannabiskonsums: DGPPN-Positionspapier. Nervenarzt 88:291–298. https://doi.org/10.1007/s00115-016-0248-0
2. EMCDDA (2021) European Drug Report. Trends and Develoments. https://www.emcdda.europa.eu/publications/edr/trends-developments/2021_en. Zugegriffen: 7. Feb. 2022
3. United Nations (2021) World Drug Report 2021. https://www.unodc.org/unodc/en/data-and-analysis/wdr2021.html. Zugegriffen: 7. Feb. 2022
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