29.03.2022 | Positionspapier

Cannabis-Legalisierung: Prävention und Jugendschutz sind nicht verhandelbar

Die neue Regierung hat im Koalitionsvertrag eine kontrollierte Abgabe von Cannabis („Cannabis-Legalisierung“) geplant. Diese politische Entscheidung muss aus Sicht der DGPPN eng medizinisch-wissenschaftlich beraten und begleitet werden, um die Gesundheitsrisiken zu minimieren und einer Zunahme des Cannabiskonsums entgegenzuwirken [1]. Hierbei sind die Prävention, die Sicherstellung des Jugendschutzes, die Ausweitung von Maßnahmen zur Früherkennung und Frühintervention bei psychischen Erkrankungen sowie eine wissenschaftliche Begleitforschung zwingend geboten.

Executive Summary

Aufgrund der hohen Gesundheitsrisiken darf eine kontrollierte Abgabe von Cannabis nicht zu mehr konsumierenden, abhängigen und psychisch erkrankten Menschen führen. Die wichtigsten Maßnahmen betreffen daher Prävention, Jugendschutz, spezifische Beratungs-/Behandlungsangebote, Begleitforschung und Finanzierung.

  • Prävention: Sowohl spezifische verhaltens- als auch verhältnispräventive Maßnahmen müssen zum Tragen kommen.
  • Jugendschutz: Um einen schädlichen Einfluss auf die Hirnreifung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu vermindern, soll die Altersgrenze des Zugangs nicht unter 21 Jahren liegen.
  • Beratung und Behandlung: Der Ausbau niedrigschwelliger, kultursensibler und flächendeckender Beratungs- und Behandlungsangebote muss vorangetrieben werden.
  • Begleitforschung: Die Auswirkungen und Marktentwicklungen der kontrollierten Cannabisfreigabe müssen intensiv beforscht werden.
  • Finanzierung: Es ist sicherzustellen, dass die Einnahmen aus dem Cannabisverkauf vollständig zur Förderung von Prävention und Jugendschutz sowie zur Suchtversorgung und -forschung verwendet werden. 
     

Cannabis ist die am weitesten verbreitete illegale Droge in Deutschland. Vier von zehn jungen Erwachsenen (15–24 Jahre) haben bereits Cannabis konsumiert – Tendenz steigend [2]. In den meisten europäischen Ländern hat der Cannabiskonsum in den letzten Jahren zugenommen [2, 3]. Diese Entwicklung hängt von verschiedenen Faktoren ab. Die Rolle einer regulierten Freigabe von Cannabis ist nicht klar; dennoch liefern aktuelle Forschungsergebnisse Hinweise darauf, dass eine Cannabislegalisierung die Zahl der regelmäßigen Konsumenten und in der Folge die Zahl der Menschen erhöhen kann, die cannabisbezogene Störungen und Folgeerkrankungen entwickeln [4, 5].

Die wichtigsten wissenschaftlichen Fakten zu den Risiken von Cannabiskonsum finden sich im Anhang

 

Vor diesem Hintergrund muss sichergestellt werden, dass die kontrollierte Abgabe von Cannabis nicht zu mehr konsumierenden, abhängigen und psychisch erkrankten Menschen führt und Kinder und Jugendliche effizient über die Risiken des Cannabiskonsums aufgeklärt und vor den negativen Folgen geschützt werden.

Aus suchtmedizinisch-psychiatrischer Sicht sind die folgenden Ansprüche an eine kontrollierte Abgabe von Cannabis zu stellen [6]:

1.    Verhaltensprävention

Problematischem Cannabiskonsum soll durch strukturelle Maßnahmen, welche sich in der Tabak- und Alkoholkontrolle als wirksam erwiesen haben, vorgebeugt werden [5]. Da die Umsetzung präventiver Strategien in Deutschland im internationalen Vergleich jedoch hinterherhinkt [7], sollen auch innovative Ansätze entwickelt, evaluiert und implementiert werden.

Dies betrifft generelle und zielgruppenspezifische sowie kultursensible Präventionsangebote wie z. B.:

  • Zielgruppenspezifische Angebote für junge Erwachsene, Menschen mit psychischen Erkrankungen, vorbestehenden Suchterkrankungen oder familiären Risiko für psychische Störungen [8]
  • Spezifische Präventionsangebote zur Vermeidung einer Teilnahme am Straßenverkehr nach Konsum mit Aufklärungen über Art und Dauer der eingeschränkten Fahrtüchtigkeit
  • Entwicklung schulischer Präventionsprogramme

 

2.    Verhältnisprävention

Die Hirnreifung ist – mit großen interindividuellen Unterschieden – erst in der Mitte der dritten Lebensdekade abgeschlossen [9­­­–11]. Körpereigene Cannabinoide (Endocannabinoide) und Cannabisrezeptoren sind essenziell in diesen Prozess involviert [12–14]. Aufgrund übereinstimmender klinischer Befunde zu erhöhtem Psychoserisiko und veränderter Reifung der Neuronen und der Myelinisierung bei frühem Cannabiskonsum, z. B. in der Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter in klinischen und experimentellen Studien, soll Cannabis vor dem Abschluss der Ausreifung des Gehirns nicht konsumiert werden [15–20].

Eine Altersgrenze über das 18. Lebensjahr hinaus erscheint auch sinnvoll, da in den letzten Jahren epigenetische Effekte von THC und anderen Cannabinoiden in der Adoleszenz fortdauernd bis in das Erwachsenenalter gefunden werden konnten [21]. Epigenetische Effekte z. B. nach Konsum von THC in der Adoleszenz können zu einer Hirnreifungsstörung mit Auswirkungen auf kognitive Leistungen und zu einem erhöhten Risiko für die Entwicklung von psychischen Erkrankungen führen sowie auf das Immunsystem wirken [22, 23].

Aus psychiatrischer und neurobiologischer Sicht und gegenwärtigem Stand des Wissens, soll die Altersgrenze des Zugangs nicht unter 21 Jahren liegen. Eine derartige Altersbegrenzung schließt über Cannabisrezeptoren vermittelte Folgeschäden auf das ausgereifte Gehirn jedoch nicht vollständig aus.

Eine Weitergabe von THC-Produkten, auch wenn sie legal erworben wurden, besonders an Personen unterhalb der Mindestaltersgrenze ist unter Strafe zu stellen. Des Weiteren sollen neue und verbesserte Maßnahmen des Kinder- und Jugendschutzes im Bereich von Cannabis, aber auch von Tabak und Alkohol entwickelt, evaluiert und angewendet werden.

Neben der direkten Zugangskontrolle über Altersbeschränkung sind weitere verhältnispräventive Maßnahmen erforderlich:

  • Verbot des Verkaufs von nach gegenwärtigem Stand sicher gefährlichen Zubereitungen von Cannabisdarreichungen mit

       a) hohem THC-Gehalt (z. B. > 10 %) und niedrigem CBD-Gehalt, da diese ein besonders hohes Psychose-Induktions-Risiko beinhalten [24]. Zu diesem Aspekt muss jedoch eine weitergehende Forschung sowohl zu den Wirkungen von verschiedenen Konzentrationen von THC erfolgen als auch bzgl. der Wirkungen der verschiedenen zusätzlichen, mehr als 140 Cannabinoiden in Cannabis.

      b) mit schlecht abschätzbarer Resorption (z. B. in THC-haltigen Lebensmitteln)

  • Begrenzte Öffnungszeiten und Anzahl der Verkaufsstellen mit Kontrolle des Alters der Einkaufenden bei der Abgabe und verbindlichem Hinweis auf Beratungsangebote
  • Kontrollierbare Mengenbegrenzung beim Verkauf ausschließlich für den Eigenbedarf (passend zu einem nicht täglichen Konsum)
  • Direktes und indirektes Werbeverbot
  • Werbefreie Verpackungen mit Hinweisen zu den Risiken und Angabe des THC- und CBD-Gehalts sowie mit Telefonnummer eines Beratungsangebotes und Warnhinweisen (analog Tabakverpackungen)
  • Gestaltung des Preisniveaus unter Beachtung der Auswirkungen auf Nachfrage und Wettbewerb mit illegalem Markt

 

3.    Begrenzung der Verfügbarkeit

Zur Vermeidung lokaler Häufungen von Abgabestellen, müssen, bezogen auf Einwohnerzahl und Infrastruktur, Regularien definiert werden, nach denen Kommunen entscheiden können. Auch die Option keine Cannabisausgabestelle einzurichten, muss möglich sein.

 

4.    Ausbau spezifischer Beratungs-/Behandlungsangebote

Zum Ausbau und zur Etablierung, niedrigschwelliger, kultursensibler und flächendeckender (u. a. online) Beratungsangebote wird eine umfassende finanzielle Unterstützung notwendig sein.

 

5.    Begleitforschung zu den Auswirkungen der Legalisierung von Cannabis

Eine umfassende Begleitforschung und Marktbeobachtungen sind insbesondere zu folgenden Aspekten geboten:

  • Zusammenhang zwischen Liberalisierung des Zugangs zu Cannabis und der möglichen Erhöhung der Konsum- und Missbrauchsprävalenz
  • Marktbeobachtung (Verfügbarkeit illegaler Quellen, Veränderung des illegalen Angebots)
  • Veränderung des Konsumverhaltens in unterschiedlichen Gruppen
  • Entwicklung des quantitativen Gehalts von THC und Cannabidiol und ggf. anderer Cannabinoide der verkauften Produkte
  • Entwicklung der Behandlungszahlen im Suchthilfesystem, aber auch z. B. in den Notaufnahmen wegen akuter Nebenwirkungen
  • Veränderung bei den (erst-)auffälligen Konsumenten im Straßenverkehr

Vor dem Hintergrund der geplanten kontrollierten Freigabe von Cannabis fordert die DGPPN erneut die Etablierung und ausreichende finanzielle Ausstattung systematischer Forschungsprogramme in den genannten Bereichen.[1] Die Begleitforschung soll zeitnah starten, möglichst bereits vor der Verabschiedung des Gesetzes. Nur so können Veränderungen durch die neue Gesetzgebung zuverlässig erfasst werden.

 

[1] An dieser Stelle wird darauf hingewiesen, dass bereits in der DGPPN-Stellungnahme von 2016 zur Legalisierung des nicht-medizinischen Konsums mehr Forschung zu den Risikofaktoren für die verschiedenen psychopathologischen Wirkungen von Cannabis und zu deren Behandlung in Deutschland gefordert wurde; ferner wissenschaftliche Analysen besonders der kassenärztlichen sowie auch der rehabilitativen Versorgung bezüglich Prävalenz, Verlauf und Kosten cannabisbezogener Störungen in Deutschland sowie die Erforschung und Anwendung präventiver Maßnahmen. Hintergrund war, dass bereits damals die Konsumzahlen und die Behandlungszahlen cannabisbezogener Störungen in Rehabilitationseinrichtungen angestiegen waren. Bisher gibt es aber keine spezifischen finanziellen Unterstützungsprogramme für derartige Forschungsvorhaben, sodass diese gar nicht oder nur rudimentär in Deutschland durchgeführt werden.

6.    Finanzierung

Es ist sicherzustellen, dass die Einnahmen aus dem Cannabisverkauf vollständig zur Förderung von Prävention und Jugendschutz sowie zur Suchtversorgung und -forschung verwendet werden.

 

Autoren

Prof. Dr. med. Norbert Wodarz
PD Dr. rer. nat. Eva Hoch
Prof. Dr. med. Martin Driessen
Prof. Dr. med. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank
Prof. Dr. med. Anil Batra
Prof. Dr. med. Falk Kiefer
Prof. Dr. med. Dr. phil. Andreas Heinz
Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Ursula Havemann-Reinecke

 

Literatur

1.       Havemann-Reinecke U, Hoch E, Preuss UW et al (2017) Zur Legalisierungsdebatte des nicht-medizinischen Cannabiskonsums: DGPPN-Positionspapier. Nervenarzt 88:291–298. https://doi.org/10.1007/s00115-016-0248-0

2.       EMCDDA (2021) European Drug Report. Trends and Develoments. https://www.emcdda.europa.eu/publications/edr/trends-developments/2021_en. Zugegriffen: 7. Feb. 2022

3.       United Nations (2021) World Drug Report 2021. https://www.unodc.org/unodc/en/data-and-analysis/wdr2021.html. Zugegriffen: 7. Feb. 2022

4.       Hasin DS, Saha TD, Kerridge BT et al (2015) Prevalence of Marijuana Use Disorders in the United States Between 2001-2002 and 2012-2013. JAMA Psychiatry 72:1235. https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2015.1858

5.       Connor JP, Stjepanović D, Le Foll B et al (2021) Cannabis use and cannabis use disorder. Nat Rev Dis Primers 7:16. https://doi.org/10.1038/s41572-021-00247-4

6.       Crépault J-F, Rehm J, Fischer B (2016) The Cannabis Policy Framework by the Centre for Addiction and Mental Health: A proposal for a public health approach to cannabis policy in Canada. International Journal of Drug Policy 34:1–4. https://doi.org/10.1016/j.drugpo.2016.04.013

7.       Walter U, Suhrcke M, Gerlich MG, Boluarte TA (2010) The opportunities for and obstacles against prevention: the example of Germany in the areas of tobacco and alcohol. BMC Public Health 10:500. https://doi.org/10.1186/1471-2458-10-500

8.       DGPPN & DG-Sucht (Hrsg) (2020) S3-Leitlinie Medikamentenbezogene Störungen. https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/9dd86f97183aae0e5e3258fcf2d9bfb53031feb6/038-025_medikamente_langfassung.pdf. Zugegriffen: 7. Feb. 2022

9.       Baumann N, Pham-Dinh D (2001) Biology of Oligodendrocyte and Myelin in the Mammalian Central Nervous System. Physiological Reviews 81:871–927. https://doi.org/10.1152/physrev.2001.81.2.871

10.   Scott JC, Slomiak ST, Jones JD et al (2018) Association of Cannabis With Cognitive Functioning in Adolescents and Young Adults: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Psychiatry 75:585. https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2018.0335

11.   Gur RE, Moore TM, Rosen AFG et al (2019) Burden of Environmental Adversity Associated With Psychopathology, Maturation, and Brain Behavior Parameters in Youths. JAMA Psychiatry 76:966. https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2019.0943

12.   Berghuis P, Rajnicek AM, Morozov YM et al (2007) Hardwiring the Brain: Endocannabinoids Shape Neuronal Connectivity. Science 316:1212–1216. https://doi.org/10.1126/science.1137406

13.   Harkany T, Guzmán M, Galve-Roperh I et al (2007) The emerging functions of endocannabinoid signaling during CNS development. Trends in Pharmacological Sciences 28:83–92. https://doi.org/10.1016/j.tips.2006.12.004

14.   Galve-Roperh I, Palazuelos J, Aguado T, Guzmán M (2009) The endocannabinoid system and the regulation of neural development: potential implications in psychiatric disorders. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 259:371–382. https://doi.org/10.1007/s00406-009-0028-y   

15.   Arseneault L (2002) Cannabis use in adolescence and risk for adult psychosis: longitudinal prospective study. BMJ 325:1212–1213. https://doi.org/10.1136/bmj.325.7374.1212

16.   Havemann-Reinecke U (2018) Zur Legalisierungsdebatte von Cannabis zum Freizeitkonsum und in der Medizin aus biologischer, pharmakologischer und psychiatrischer Sicht. Blutalkohol 55(1) Supl. I:19-29

17.   Meyer HC, Lee FS, Gee DG (2018) The Role of the Endocannabinoid System and Genetic Variation in Adolescent Brain Development. Neuropsychopharmacol 43:21–33. https://doi.org/10.1038/npp.2017.143

18.   Miller ML, Chadwick B, Dickstein DL et al (2019) Adolescent exposure to Δ9-tetrahydrocannabinol alters the transcriptional trajectory and dendritic architecture of prefrontal pyramidal neurons. Mol Psychiatry 24:588–600. https://doi.org/10.1038/s41380-018-0243-x

19.   Cousijn J, Toenders YJ, Velzen LS, Kaag AM (2022) The relation between cannabis use, dependence severity and white matter microstructure: A diffusion tensor imaging study. Addict Biol. https://doi.org/10.1111/adb.13081

20.   Albaugh MD, Ottino-Gonzalez J, Sidwell A et al (2021) Association of Cannabis Use During Adolescence With Neurodevelopment. JAMA Psychiatry 78:1031. https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2021.1258

21.   Tomas-Roig J, Benito E, Agis-Balboa R et al (2017) Chronic exposure to cannabinoids during adolescence causes long-lasting behavioral deficits in adult mice: Long-lasting WIN55212.2 effect. Addict Biol 22:1778–1789. https://doi.org/10.1111/adb.12446

22.   Costentin J (2020) Epigenetic effects of cannabis/tetrahydrocannabinol. Bull Acad Natl Med 204:570-576. https://doi.org/10.1016/j.banm.2020.04.004

23.   Smith A, Kaufman F, Sandy MS, Cardenas A (2020) Cannabis Exposure During Critical Windows of Development: Epigenetic and Molecular Pathways Implicated in Neuropsychiatric Disease. Curr Envir Health Rpt 7:325–342. https://doi.org/10.1007/s40572-020-00275-4

24.   Di Forti M, Quattrone D, Freeman TP et al (2019) The contribution of cannabis use to variation in the incidence of psychotic disorder across Europe (EU-GEI): a multicentre case-control study. Lancet Psychiatry 6:427–436. https://doi.org/10.1016/S2215-0366(19)30048-3
 

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