Menschen mit psychischen Erkrankungen haben in der Regel einen komplexen Hilfebedarf. Um diesen zu decken und den Betroffenen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, sind eine Vielzahl von medizinischen und psychosozialen Angeboten in den Versorgungsbereichen ambulante, teilstationäre und stationäre Behandlung notwendig. In den letzten Jahrzehnten hat sich in Deutschland ein umfangreiches Versorgungs- und Hilfesystem gebildet, das eine Reihe von Berufsgruppen umfasst. Es ist aufgrund verschiedener sozialrechtlicher Grundlagen stark sektoriell gegliedert – mit jeweils unterschiedlichen Leistungsanbietern und Kostenträgern. Aufgrund der stark gestiegenen Nachfrage nach Hilfeleistungen steht dieses System heute vor großen Herausforderungen. Dabei sind Kooperation und Vernetzung Schlüsselfaktoren, um auch in Zukunft noch eine patientenzentrierte, bedarfsgerechte Versorgung gewährleisten zu können.
Hintergrund: komplexer Bedarf, fragmentiertes Hilfesystem
Das hochdifferenzierte, aber auch hochfragmentierte Versorgungs- und Kostenträgersystem ist weder von den Menschen mit psychischen Erkrankungen noch von den dort professionell Tätigen zu überschauen. Häufig finden Menschen mit akuten Symptomen, in Krisen oder mit chronischen Verläufen ihrer Erkrankung nicht die für sie individuell passende Hilfe oder scheitern an den Schnittstellen zwischen den verschiedenen ambulanten und stationären Angeboten, was zur Verzögerung und zu Abbrüchen einer sachgerechten Behandlung und Betreuung führt. Insbesondere für Patienten, die an einer schweren psychischen Erkrankung leiden, ist die Navigation im System daher sehr problematisch – mit dem Resultat, dass insbesondere den Patienten mit größerem Bedarf weniger Hilfsangebote zur Verfügung stehen („inverse care law“).
Nach wie vor existiert in Deutschland kein flächendeckendes und refinanziertes intensiv-ambulantes Behandlungssystem, das von niedergelassenen Fachärzten oder Institutsambulanzen oder von beiden gemeinsam angeboten werden könnte. So könnte die Lücke zwischen hochintensiver (teil-)stationärer Behandlung auf der einen und niedrigintensiver ambulanter Behandlung auf der anderen Seite geschlossen und teure Hospitalisierungen mittelfristig reduziert werden. Stattdessen sind hohe direkte und indirekte Kosten durch stationäre Wiederaufnahmen und Rückfälle, lange Arbeitsunfähigkeitszeiten sowie viele Frühberentungen und nicht zuletzt großes Leid der Betroffenen und der Angehörigen zu registrieren.
Schon im Bericht der Psychiatrie-Enquete von 1975 wurde in Westdeutschland die fehlende, verbindliche und strukturierte Kooperation der Leistungserbringer als Defizit beschrieben. Auch das im Juli 2018 veröffentlichte Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen empfiehlt eine bedarfsgerechte Steuerung der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Neben dem Ausbau der ambulanten und tagesklinischen Kapazitäten wird dort die klare Verortung der Koordinationsverantwortung für die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen gefordert. Zur Umsetzung einer strukturierten sektorenübergreifenden Versorgung hat der Gesetzgeber schon seit längerem gesetzliche Grundlagen im Sozialgesetzbuch V geschaffen. Seit 2004 besteht die Möglichkeit, integrierte Versorgung (§ 140 SGB V), später benannt als „besondere Versorgung“, über verschiedene Leistungssektoren oder interdisziplinär fachübergreifende Versorgung zu sichern. Im Bereich der psychischen Erkrankungen sind nur wenige Verträge zustande gekommen. Eine Implementierung innovativer Versorgungsansätze in die Regelversorgung erfolgte nicht. Modellvorhaben gemäß § 64b SGB V ermöglichen den Kliniken eine sektorenübergreifende Leistungserbringung einschließlich komplexer ambulanter psychiatrischer Behandlung im häuslichen Umfeld. Aktuell werden circa 20 Modellvorhaben umgesetzt. Das „Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen“ (PsychVVG) – seit 01.01.2017 in Kraft – hat die Möglichkeit zur stationsäquivalenten Behandlung im häuslichen Umfeld (StäB) für die Kliniken geschaffen. Die Ermöglichung intensiver ambulanter Versorgung aus dem vertragsärztlichen Versorgungssystem steht noch aus. Hoffnung auf neue Impulse für eine verbindlich strukturierte und vernetzte Versorgung weckt der Innovationsfonds, der seit 2016 zur Weiterentwicklung der sektorenübergreifenden Versorgung eine Vielzahl von Modellprojekten finanziert.
Verbindliche Vernetzung ist die Zukunft
Es ist aktuell die drängendste Herausforderung, die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen unter der Bedingung begrenzter ökonomischer Ressourcen und einer steigenden Inanspruchnahme psychiatrischer Leistungen am Bedarf und an den Bedürfnissen der Betroffenen und Angehörigen auszurichten und evidenzbasiert umzusetzen. Nur ein gestuftes Vorgehen innerhalb eines vernetzten Hilfesystems kann diese Kriterien erfüllen. Das beinhaltet die Koordination und verbindliche Vernetzung der Hilfsangebote einerseits und der Patientenwege andererseits. Gestufte und vernetzte Versorgungsmodelle gehen vom Bedarf des Patienten aus und bieten gezielte Entscheidungsunterstützung durch Leitlinien und Versorgungspfade, bei denen die verschiedenen Therapieangebote strukturiert und koordiniert durch eine verbindliche und effektive Aufgabenteilung der verschiedenen Leistungserbringer definiert werden.
Die Behandlung und Betreuung von Menschen mit psychischen Erkrankungen hat neben der Symptomreduktion auch die Stärkung der eigenen Ressourcen im Sinne von Empowerment und Recovery-Konzepten sowie die Ermöglichung von Teilhabe in allen Lebensbereichen zum Ziel. Da psychische Erkrankungen in engem Zusammenhang mit der sozialen Umgebung und deren Bedingungen stehen, ist die Einbeziehung des Lebensumfeldes von wesentlicher Bedeutung. Diagnostik und Therapien sollten niederschwellig ansetzen, möglichst ohne Wartezeiten verfügbar sein und eine kontinuierliche Betreuung gewährleisten. Die Intensität der Behandlung muss im Verlauf der Erkrankung dem individuellen Bedarf der Patienten kontinuierlich angepasst werden.
Aus diesem Grund ist ein Netzwerk von multiprofessionellen Leistungserbringern und eine Betreuung am Wohnort bzw. in der Gemeinde der Patienten anzustreben.
Intensität, Dauer und Umfang der jeweiligen Maßnahme müssen am Schweregrad und Verlauf der Erkrankungen ausgerichtet werden. Bei geringem Bedarf sollen Selbsthilfe- und Beratungsangebote zur Anwendung kommen und bei steigendem Bedarf werden zunehmend intensive und komplexe ambulante sowie auf der letzten Stufe stationäre medizinische und psychosoziale Interventionen eingesetzt.
Anreize für Koordinationsaufgaben schaffen
Leitmotiv einer berufsgruppenübergreifenden, koordinierten und strukturierten Versorgung ist es, leichter erkrankten Patienten schnelle und niederschwellige, weniger intensive Angebote zu vermitteln, um eine Symptomeskalation bzw. Chronifizierung zu verhindern. Bei Verschlechterung der Erkrankung sollten die Angebote in Dauer, Umfang und Frequenz zügig angepasst und bei schwer erkrankten Patienten eine ausdifferenzierte, intensive Behandlung angeboten werden. Als Anreiz für Leistungserbringer, sich in einem solchen verbindlichen Netzwerkprozess einzubringen, sollten Alternativen zu den in allen Sektoren entstandenen Budgetbegrenzungen geschaffen werden, welche die Regelversorgung sowohl ambulant als auch stationär massiv einschränken und eine schnelle, qualitätsgesicherte und bedarfsgerechte Versorgung erschweren. Damit eine verbindliche integrierte Versorgung zu spürbaren Verbesserungen für Menschen mit psychischen Erkrankungen führen kann, sollten auch Vergütungsanreize für Koordinationsleistungen geschaffen werden – eine Forderung, die derzeit auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen vertritt.
Psychiatrische Behandlung braucht Personal
Eine wirksame, innovative und auf ethischen Grundsätzen beruhende Psychiatrie braucht hochqualifiziertes Personal. Vor diesem Hintergrund sind Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie Nachwuchsgewinnung wichtige Voraussetzungen für eine optimale Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Dies erfordert eine besondere Anstrengung angesichts einer notwendigen Personalaufstockung einerseits und einer zunehmenden Zahl offener Stellen im stationären und ambulanten Bereich andererseits. Damit die Psychiatrie für den ärztlichen Nachwuchs attraktiv bleibt, müssen auch entsprechende Rahmenbedingungen für die Tätigkeit in Kliniken und Praxen gegeben sein. Dies sollte eine für das Fach, die Selbstverwaltung und die Politik gleichermaßen prioritäre Aufgabe sein.
Spezifischer Handlungsbedarf I: ambulante, vertragsärztliche Versorgung
In der ambulanten, vertragsärztlichen Versorgung sehen wir folgenden Handlungsbedarf:
Spezifischer Handlungsbedarf II: Krankenhausbereich
In der stationären und teilstationären Versorgung im Krankenhaus sehen wir folgenden Handlungsbedarf:
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