Die derzeitige gesellschaftspolitische Debatte vor dem Hintergrund eines Gesetzgebungsprojektes zur Suizidbeihilfe, auch durch Ärzte, die nicht selten fälschlicherweise als Sterbehilfe bezeichnet wird, veranlaßt die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zu einer eindeutigen Positionierung: Beihilfe zur Selbsttötung ist keine ärztliche Aufgabe. Aus psychiatrischer Sicht muss stattdessen der Schwerpunkt auf Suizidprävention und dem Kampf um das Leben jedes einzelnen Menschen liegen.
Die aktuelle gesellschaftliche Debatte zur Suizidbeihilfe betrifft die Psychiatrie in besonderer Weise. Selbsttötungsgedanken (oder -versuche) und Suizidrisiko sind häufige Begleitphänomene fast aller schweren psychischen Erkrankungen. Die überwiegende Mehrheit der derzeit jährlich etwa 10.000 Suizide in unserem Land wird von Menschen mit psychischen Erkrankungen vollzogen. Daher hat sich die Psychiatrie in Forschung und Praxis sehr intensiv mit Suizidversuchen und Suiziden sowie deren Verhütung befasst.
In der öffentlichen Diskussion heißt es oft, dass Menschen mit schweren somatischen Erkrankungen, die um Beihilfe zum Suizid bitten, sich grundsätzlich von suizidalen Menschen mit psychischen Erkrankungen unterscheiden würden. Auch in der politischen Diskussion werden vorzugsweise Beispiele von ausschließlich durch körperliche Krankheit verursachte Leiden mit terminaler Prognose angeführt. Diese Polarisierung verkennt die Realität: Oft gehen das Leid bei körperlicher Krankheit und das psychische Leid (zuweilen auch als Folge des körperlichen Leidens) untrennbar ineinander über. Es ist ein komplexes Bedingungsgefüge, das den schwindenden Lebenswillen und das Dringen auf einen vorzeitigen Tod bestimmt.
Die Erfahrung von Psychiatern und Psychotherapeuten ist es, dass ursprünglich aus der Erfahrung körperlicher Krankheit entstandene Leidenszustände oft von einer verzweifelten und depressiven Verstimmung mitbestimmt werden. Daraus kann das Erleben von völliger Ausweg- und Hoffnungslosigkeit erwachsen, welches die Sterbewünsche und das Suizidbegehren hervorbringt. Solche psychischen Zustände, die oft als begleitende, krankheitswertige Depressionen in Erscheinung treten, sind vor allem anderen Anlass für Hilfe zum Leben: für die Zuwendung der Vertrauenspersonen, die Fürsorge von Pflegenden und Ärzten sowie eine angemessene Therapie. Fürsorgliche Zuwendung, Empathie und Therapie können bei vielen Betroffenen zu einer veränderten Einstellung zu ihrem Leiden beitragen und den Lebenswillen unterstützen.
Solche Interventionsmöglichkeiten können leicht ungenutzt bleiben, wenn die körperliche Krankheit vorschnell und ausschließlich als Ursache für den leidensbedingten Sterbewunsch verstanden wird und daraus auf die Unabwendbarkeit des Todeswunsches geschlossen wird. Unabhängig von den jeweiligen Gründen kranker Menschen, mit der Bitte um Suizidhilfe an ihre Ärzte heranzutreten, ist die Auseinandersetzung darüber mit dem Ziel der Hilfe zum Leben das Ziel jedes Psychiaters und Psychotherapeuten. Denn eine unumstrittene Erkenntnis der Suizidforschung ist, dass ein offener, ernster und vertrauensvoller Austausch über den individuellen Sterbewunsch beabsichtigte Suizide fast immer verhütet.
Psychiatrie und Psychotherapie haben im Umgang mit suizidgefährdeten Menschen mit psychischen Erkrankungen Hilfsangebote und Behandlungsprinzipien entwickelt, die für die aktuelle Diskussion bedeutsam sind. Die Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sind dem Leben zugewandt: Es ist ihre zentrale Aufgabe, Menschen mit Suizidabsichten im vertrauensvollen Gespräch Mut und Hilfe zum Leben zu vermitteln. Einige Überlegungen dazu seien im Folgenden zusammengefasst:
Grundsätzlich ist zu bedenken: Selbstbestimmte Entscheidungen zum eigenen Tod werden nicht nur auf der Grundlage eigener Werthaltungen und individuellen Würdevorstellungen angesichts des erlebten Leidens getroffen. Für die wahrgenommene Aussichtslosigkeit sind oft darüber hinausgehende und vom Kranken selbst nicht beeinflussbare Lebensbedingungen und gesellschaftliche Einstellungen sowie Bedingungen entscheidend: z. B. die Erfahrung von unzureichender Wertschätzung, von fehlender Beachtung und Anerkennung und von angeblich nicht mehr vorhandenem eigenem „Lebenswert“. Dazu gehören auch das schamvolle Erleben von Hilflosigkeit oder „Nutzlosigkeit“ bzw. teils überzogene Befürchtungen von zukünftiger Hilflosigkeit.
Solche Gründe für Suizidwünsche können von der Gesellschaft beeinflusst und begrenzt werden. Eine Kultur der Achtung und bedarfsgerechten Unterstützung körperlich und seelisch kranker Menschen, insbesondere im fortgeschrittenen Lebensalter, gibt es bisher nur in unzureichendem Maße. Ein qualitätsorientierter Ausbau der auf Schmerzbekämpfung ausgerichteten Palliativmedizin ist notwendig, reicht aber nicht aus. Dies muss durch eine deutliche Verbesserung der psychiatrisch-psychotherapeutischen Arbeit ergänzt werden – insbesondere in der Altersmedizin und der Gerontopsychiatrie, ebenso wie in der Pflege in Altenheimen.
Die DGPPN appelliert an die Öffentlichkeit und den Gesetzgeber, die besondere Situation von Menschen mit psychischen Erkrankungen in der weiteren Diskussion um eine gesetzliche Regelung des assistierten Suizides zu beachten und zu berücksichtigen sowie die lebensbejahende Arbeit von Ärzten anzuerkennen.
Wolfgang Maier (Bonn), Gabriel Gerlinger (Berlin), Manfred Wolfersdorf (Bayreuth), Frank Schneider (Aachen), Iris Hauth (Berlin)
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