29.11.2023 | Pressemitteilung

Ökologische Psychiatrie und Psychotherapie – der DGPPN Kongress 2023

Der Klimawandel, zunehmende Urbanisierung, Artenverlust – welche Folgen haben solche Prozesse für die menschliche Psyche? Fragen wie diese an der Schnittstelle von Ökologie, Psychiatrie und Neurowissenschaften stellt die DGPPN in den Mittelpunkt ihres Kongresses 2023: „Ökologische Psychiatrie und Psychotherapie“. Heute hat das größte deutschsprachige Fachtreffen zu Themen der psychischen Gesundheit in Berlin eröffnet. 

Menschen leben im ständigen Austausch mit ihrer Umwelt – der äußeren und der inneren. Diese komplexen Beziehungen prägen unsere psychische Gesundheit. Dank moderner Forschungsmethoden aus Genetik, Bildgebung, Epidemiologie und künstlicher Intelligenz können sie präzise analysiert werden. So kann die Psychiatrie neue Präventions- und Therapieangebote für Menschen mit psychischen Erkrankungen entwickeln. Zudem entsteht erstmals eine Datengrundlage für Empfehlungen der Wissenschaft an die Politik.

„Mit dem Thema der Ökologischen Psychiatrie und Psychotherapie widmen wir uns den vielen Umweltfaktoren, die auf die menschliche Psyche einwirken“, erläutert Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). „Und das sind nicht nur unsere sozialen Beziehungen. Auch die Gesundheit unseres Planeten hat Auswirkungen auf unser Wohlbefinden, ebenso die Umgebung, in der wir uns aufhalten. Sogar die Vielfalt der Bakterien in unserer Darmschleimhaut beeinflusst unsere psychische Gesundheit.“

Das Thema zieht sich als roter Faden in Workshops, Lectures, Symposien und Diskussionsforen durch das Programm des DGPPN Kongresses: Es wird über den Zusammenhang zwischen Klima und psychischen Erkrankungen aufgeklärt, über Klimagefühle wie Klimakrisenleugnung oder Klimaangst gesprochen und darüber diskutiert, wie die Versorgungsstrukturen angepasst werden müssen, um für die Zukunft gut aufgestellt zu sein.

„Menschen mit psychischen Erkrankungen sind von den Folgen des Klimawandels besonders betroffen und müssen daher besonders geschützt werden“, fordert der DGPPN-Präsident. „Zum Beispiel ist das hitzebedingte Mortalitätsrisiko insbesondere für Menschen mit Süchten und organischen psychischen Störungen wie beispielsweise Demenzen erhöht. Aufgrund des Klimawandels entsteht auch neuer Behandlungsbedarf, zum Beispiel wenn Menschen in Folge von Extremwetter-Ereignissen traumatisiert werden. Aktuell ist das psychiatrische Versorgungssystem darauf nicht vorbereitet.“

Neben der Ökologischen Psychiatrie und Psychotherapie steht in Berlin eine Fülle weiterer aktueller und gesellschaftlich hochrelevanter Themen auf dem Programm: Suizidassistenz, Cannabis-Legalisierung, interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, innovative Ideen für eine verbesserte Versorgung und Behandlung, neue Ansätze wie die Partizipative Forschung und vieles mehr. Auch spezifisch psychiatrisches Wissen wird selbstverständlich vermittelt: In mehr als 40 State-of-the-Art-Vorträgen, über 200 Symposien und gut 80 Workshops präsentieren Expertinnen und Experten den neuesten Stand in Forschung und Versorgung und vermitteln evidenzbasiertes Praxiswissen aus erster Hand. Auch der Trialog mit Betroffenen und Angehörigen sowie gesellschaftlich-künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Thema seelische Erkrankungen im Rahmenprogramm „Kunst und Psyche“ gehören zum Programm.

Der DGPPN Kongress läuft noch bis Samstag, den 2. Dezember 2023 im Berliner CityCube. Mit etwa 650 Veranstaltungen insgesamt, 1.500 aktiv Beteiligten und 8.500 Teilnehmenden aus allen Berufsgruppen in Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde ist der DGPPN Kongress auch 2023 wieder das größte Fachtreffen auf dem Gebiet der psychischen Gesundheit im deutschsprachigen Raum.

Der DGPPN Kongress findet auch in diesem Jahr mit digitaler Ergänzung statt: Zentrale Veranstaltungen werden per Livestream übertragen und stehen im Anschluss an den Kongress als On-Demand-Angebot bereit.

 

Statements

Prof. Dr. Andreas Meyer-Lindenberg, Präsident der DGPPN, über die Auswirkungen des Klimawandels auf die psychische Gesundheit:

„Die Auswirkungen von extremen Wettereignissen auf die Psyche sind sehr gut belegt. Nach dem verheerenden Hurricane Katrina in den USA litt 30 Tage nach dem Ereignis etwa die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner von New Orleans unter einer Depression oder Angststörung, viele berichteten von Suizidgedanken. Noch ein Jahr später wies fast jeder Dritte Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung auf. Auch der Zusammenhang zwischen Hitze und psychischen Symptomen ist klar nachweisbar.

Trotzdem spielt die psychische Gesundheit in Studien zum Klimawandel immer noch eine untergeordnete Rolle. Auch in den Klimafolgemodellen werden die psychischen Aspekte nicht angemessen berücksichtigt – und das, obwohl psychische Erkrankungen häufig und schwerwiegend sind. Hier gibt es für die Forschung noch viel zu tun.

Auch in der Versorgung werden die Folgen des Klimawandels auf die Psyche noch zu wenig adressiert. Wir sind weder darauf vorbereitet, den Opfern von Extremwetter-Ereignissen schnelle und angemessene Hilfe anzubieten, noch sind unsere Behandlungsräume und Stationen für die zunehmende Hitze ausgestattet. Viele Praxen und Kliniken arbeiten auch noch nicht so emissionsarm, wie sie könnten.

Wenn wir Möglichkeiten finden, die Folgen des Klimawandels aktiv zu reduzieren, hilft das nicht nur dem Klima, sondern auch ganz direkt der Psyche. Denn je aktiver und handlungsfähiger wir uns fühlen, desto geringer ist die Gefahr für unsere psychische Gesundheit.“

 

Lea Dohm, Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG), Berlin, über Planetary Health und Psyche:

„Die Klimakrise bereitet den meisten Menschen große Sorgen. Sie löst Gefühle wie Angst, Trauer und Ärger aus. Die Gefahr ist real, diese Klimagefühle sind daher nicht krankhaft.

Klimagefühle sind oft unangenehm. Viele Menschen vermeiden deshalb eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Themenfeld. Sie wehren Gedanken daran ab oder weisen die eigene Verantwortung von sich. Solche Prozesse sind individuell nachvollziehbar, einer ehrlichen, gemeinschaftlichen und konstruktiven Auseinandersetzung stehen sie aber erheblich im Weg.

Dieses psychologische Wissen hat Konsequenzen für den Journalismus: Medien sollten in ihrer Klimaberichterstattung mit besonderer Aufmerksamkeit und Empathie vorgehen. Klimagefühle sollten anerkannt und ernstgenommen werden. Sie betreffen die Mehrheit der Menschen. In der Berichterstattung sollten zudem konsequent auch machbare und wirksame Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Das ermutigt Menschen, Klimathemen nicht zu vermeiden, sondern selbst aktiv zu werden.

Klimaschutz ist Gesundheitsschutz. Vernetzung mit anderen sowie gemeinschaftliches Engagement verringern das Gefühl der Machtlosigkeit und fördern die psychische Gesundheit. Individuelle Verhaltensveränderungen und bewusste Konsumentscheidungen sind sinnvoll, reichen aber nicht aus. Wirksamer ist es, sich gemeinsam mit anderen und im eigenen Berufsfeld fortlaufend aktiv für Klimaschutz einzusetzen.“

 

Prof. Dr. Dr. Heike Tost, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim, über Naturerleben und psychische Gesundheit:

„Das Umfeld, in dem wir uns tagtäglich bewegen, hat einen deutlichen Einfluss auf unser Wohlbefinden. Für Menschen, die in einer Stadt wohnen, ist das Risiko, eine Depression oder Angsterkrankung zu entwickeln, 20 bis 40 Prozent höher als für Personen, die in ländlichen Gebieten leben.

Zudem scheint es einen Unterschied zu machen, wo in einer Stadt ein Mensch sich hauptsächlich aufhält: Der Anteil an Grünflächen in der Umgebung von Menschen hat direkte Auswirkungen auf deren Wohlbefinden im Alltag. Von diesem Effekt profitieren erstaunlicherweise besonders solche Menschen, die die meiste Zeit ihres Alltags in urbanen Stadtvierteln mit wenig Grünanlagen verbringen. Neuere Ergebnisse zeigen zudem, dass auch Artenvielfalt einen Einfluss auf das menschliche Wohlbefinden in der Stadt hat.

Stadtbewohnerinnen und -bewohner zeigen unter Stress eine stärkere Aktivierung der Amygdala. Dabei handelt es sich um eine Hirnstruktur, die Emotionen steuert und am Entstehen sowohl von Depressionen als auch von Angsterkrankungen beteiligt ist. Eine starke Aktivierung der Amygdala findet man üblicherweise insbesondere in Angst auslösenden Situationen. Dies könnte darauf hindeuten, dass das Stadtleben Menschen dafür sensibilisiert, auf bedrohliche Situationen stärker mit Stress und negativen Emotionen zu reagieren.

Für das Entstehen psychischer Erkrankungen ist aber nicht nur relevant, wo ein Mensch aktuell lebt – in der Stadt oder auf dem Land. Einen mindestens ebenso großen Einfluss scheint es zu haben, wo ein Mensch aufgewachsen ist. Ein stressreicheres Leben während der Kindheit in der Stadt schwächt die Entwicklung derjenigen biologischen Systeme im Gehirn, die mit der Bewältigung von Stress betraut sind. Infolgedessen kann das Gehirn im späteren Leben weniger gut mit akut auftretendem Stress umgehen. Der städtische Stress in der Kindheit hinterlässt also auf biologischer Ebene eine Spur im Gehirn, die im Erwachsenenalter anfälliger macht, unter erneut auftretendem starkem Stress ungünstig zu reagieren und eine psychische Erkrankung, beispielsweise eine Schizophrenie, zu entwickeln.

Ein wichtiges Ziel unserer Forschung ist es, zu klären, wie die urbane Umwelt verändert werden kann, um negativen Stressfolgen vorzubeugen und damit das Risiko für psychische Erkrankungen zu verringern. Eine Möglichkeit wäre es unseren Daten zufolge, in urbanen Gegenden mehr, vielfältigere und besser zugängliche Grünflächen anzulegen.

Auch auf individueller Ebene kann man so Stressfolgen vorbeugen: Je mehr Grün ein Mensch in der Stadt täglich um sich hat oder erlebt, desto besser sein Wohlbefinden. Es kann bereits einen Effekt haben, sich Pflanzen ins Büro zu stellen oder auf dem Weg zur Arbeit einen Umweg durch die nächste Parkanlage einzuplanen.“

 

Prof. Dr. Martin Walter, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Jena, darüber, was unser Darm mit psychischen Erkrankungen zu tun hat:

„Mikroorganismen besiedeln praktisch jeden Bereich unseres Planeten. Ihre Wechselwirkungen untereinander, ihre Beziehungen mit anderen Lebewesen und mit ihrer Umwelt sind von grundlegender Bedeutung für die Funktion aller Ökosysteme – auch für das Ökosystem Mensch.

Die Gesamtheit der Mikroorganismen innerhalb eines Wirts wird auch als Mikrobiom bezeichnet. Zahlreiche Studien der letzten Jahre belegen: Die Zusammensetzung des Mikrobioms ist bei vielen häufigen psychiatrischen Erkrankungen verändert.

Weil das menschliche Mikrobiom über direkte und indirekte Verbindungen in komplexer Wechselbeziehung zum zentralen Nervensystem steht, beeinflusst es die Prädisposition, Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Symptome.

Es gilt also, die komplexen Signalwege und Mechanismen, über die menschliche Mikroorganismen in ständigem Austausch mit dem Gehirn stehen, aufzudecken. Dann können wir sie nutzen, um psychische Gesundheit positiv zu beeinflussen. Es ist deshalb ein vielversprechender Ansatzpunkt für neue individualisierte therapeutische Interventionen zur Behandlung psychischer Erkrankungen.“

 

Weitere Informationen:

 

Bildmaterial für die Berichterstattung

  • Die DGPPN heißt Besucherinnen und Besucher zum DGPPN Kongress willkommen. Foto: K. Buslay | DGPPN [Querformat, 7,6 MB]
  • Die DGPPN heißt Besucherinnen und Besucher zum DGPPN Kongress willkommen. Foto: K. Buslay | DGPPN [Hochformat, 7,2 MB]
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