01.04.2022 | Positionspapier

Zum Ausbau von Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen (MZEB)

Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung benötigen neben spezialisierter somatischer Versorgung häufig auch spezialisierte psychiatrische und psychotherapeutische Unterstützung. Darauf sind die Versorgungsstrukturen vielerorts nicht ausreichend eingestellt. Die Regierungsparteien haben sich im Koalitionsvertrag u. a. auf einen bundesweiten Ausbau der MZEB geeinigt. Aus Sicht der DGPPN sollten die MZEB ausdrücklich in die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung der Zielgruppe einbezogen werden.

Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung benötigen neben spezialisierter somatischer Versorgung häufig auch spezialisierte psychiatrische und psychotherapeutische Unterstützung. Darauf sind die Versorgungsstrukturen vielerorts nicht ausreichend eingestellt. Die Regierungsparteien haben sich im Koalitionsvertrag u. a. auf einen bundesweiten Ausbau der MZEB geeinigt. Aus Sicht der DGPPN sollten die MZEB ausdrücklich in die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung der Zielgruppe einbezogen werden.
Executive Summary

MZEB sollten neben somatischen Schwerpunkten zukünftig verstärkt psychiatrische und psychotherapeutische Schwerpunkte ausbilden, um dazu beizutragen, die manifesten psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungsdefizite der Zielgruppe abzubauen.

Die DGPPN fordert deswegen, 
 

  1. die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung dieser bislang unterversorgten Zielgruppe ausdrücklich in die Umsetzung des Aktionsplans für ein diverses, barrierefreies und inklusives Gesundheitswesen einzuschließen,
  2. das Potenzial der MZEB zur Verbesserung der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung dieser Patientengruppe bei der Weiterentwicklung der MZEB-Landschaft in allen Bundesländern zu berücksichtigen,
  3. die bedarfsgerechte psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung in den MZEB durch fachgerechte Leistungsvereinbarungen und aufwandsgerechte Vergütungsvereinbarungen zu ermöglichen, und zwar unter Berücksichtigung des besonderen Aufwands für die notwendige aufsuchende Arbeitsweise sowie Kommunikation und Kooperation mit anderen Akteuren der Versorgung.

 

1. Anlass und Hintergrund

Der Koalitionsvertrag 2021 bis 2025 zwischen SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP erklärt die Absicht, auf gesundheitspolitischem Gebiet unter anderem die Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderung zu verbessern. Er kündigt einen Aktionsplan für ein diverses, barrierefreies und inklusives Gesundheitswesen bis Ende 2022 an. Es werden auch die Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen (MZEB) ausdrücklich thematisiert: „Die Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen sowie die Sozialpädiatrischen Zentren bauen wir in allen Bundesländern aus“.

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) begrüßt diese Absicht unter Anknüpfung an ihr Positionspapier „Zielgruppenspezifische psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung und zusätzlichen psychischen Störungen – Situation, Bedarf und Entwicklungsperspektiven“ aus dem Jahre 2019[1]. Dort wurde der Handlungsbedarf zur Verbesserung der psychiatrischen und psychotherapeutischen Situation beschrieben und begründet sowie entsprechende Handlungsoptionen formuliert.

Um die ausgeprägten Unzulänglichkeiten der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung der Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung zu überwinden, müssen beim beabsichtigten Ausbau der MZEB in allen Bundesländern auch psychiatrische und psychotherapeutische Schwerpunkte entwickelt werden. Die MZEB müssen in einer komplexen und differenzierten Angebotsstruktur einen substanziellen psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgungsbeitrag leisten können[2].

2. Besonderer Bedarf

Der besondere quantitativ und qualitative Versorgungsbedarf der Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung begründet sich insbesondere durch folgende Aspekte:

  • Überdurchschnittliche Belastungen mit psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten sowie Besonderheiten von Symptomatik und Verlauf sind charakteristisch.
  • Spezielle psychische Störungen, die mit der Ursache der geistigen Behinderung (insbesondere bei genetisch bedingten Behinderungsbildern) zusammenhängen, treten über die bekannten psychischen Störungen hinaus auf.
  • Verhaltensauffälligkeiten, die sich im Wesentlichen aus der Wechselwirkung der individuellen Dispositionen mit der sozialen und physischen Umwelt erklären lassen, müssen von psychischen Störungen im engeren Sinne differentialdiagnostisch abgegrenzt werden.
  • Häufige somatische Komorbiditäten verlangen umfangreiche Abklärung neurologischer und somatisch-medizinischer Aspekte.
  • Sensorische und sprachliche Beeinträchtigungen stellen erhebliche kommunikative Anforderungen an den Behandlungsprozess.[3]

3. Besonderheiten des Behandlungsprozesses

Es ist eine irrige Annahme, alle psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgungsbedarfe der Zielgruppe seien vollständig im Regelversorgungssystem zu decken. Der Behandlungsprozess verlangt im Hinblick auf die Zielgruppe eine Reihe spezieller fachlicher und organisatorischer Voraussetzungen[4]:

  • Kenntnisse über den Stellenwert der emotionalen Entwicklungsverzögerung, deren 
    Assessment und Interpretation,
  • überdurchschnittlicher Zeitaufwand für den Behandlungsprozess,
  • multiprofessionelle Herangehensweise an Diagnostik und Therapie und 
  • Kenntnisse über die Bedeutung des intellektuellen Entwicklungsniveaus für das Krankheitsverständnis, den Behandlungsprozess usw.

Die strukturellen, organisatorischen und konzeptionellen Rahmenbedingungen (einschließlich der Personalausstattung) im Regelversorgungssystem werden den vorstehenden Anforderungen nicht gerecht[5].


4. Entwicklungsbedarfe der Versorgung

Für die Weiterentwicklung der bedarfsgerechten psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung der Zielgruppe sind zwei einander ergänzende Richtungen notwendig[6]:

  1. Das psychiatrische und psychotherapeutische Regelversorgungssystem muss sich des Versorgungsbedarfs der Zielgruppe mehr als bisher annehmen. Es muss sich in fachlicher und organisatorischer Hinsicht auf deren bedarfsgerechte Versorgung ausrichten.
  2.  Für einen Teil der Zielgruppe sind zielgruppenspezifisch ausgerichtete spezialisierte Angebote notwendig. Hier finden die MZEB ihren Platz.

5. Der potenzielle Beitrag der MZEB

Im Versorgungsstärkungsgesetz von 2015 wurden mit dem neuen § 119c SGB V die gesetzlichen Grundlagen für die MZEB geschaffen. MZEB als ambulante Angebote arbeiten interdisziplinär und multiprofessionell unter ärztlicher Leitung. Sie arbeiten gemäß der gesetzlichen Bestimmung und gemäß der Rahmenkonzeption der MZEB[7] eng mit den Akteuren der Regelversorgung zusammen. Sie können als fachliches Kompetenzzentren für Versorgung und für Fort- und Weiterbildung in der Region fungieren.

Die Defizite der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung von Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung einerseits, das Potential der MZEB andererseits sprechen dafür, dass die MZEB neben somatischen Schwerpunkten auch psychiatrisch-psychotherapeutische Schwerpunkte ausbilden sollten und auf der Grundlage ihrer speziellen Möglichkeiten einen substantiellen Beitrag zur qualifizierten Deckung des psychiatrischen und psychotherapeutischen Bedarfs der Zielgruppe, die ebenfalls im Aktionsplan adressiert wird, leisten.

Das Potential der MZEB für die psychiatrischen und psychotherapeutische Versorgung besteht unter anderem darin, dass sie in der Regel fachliche Schwerpunkte (z. B. Epileptologie, Orthopädie) vorhalten, die einer umfassenden somatischen Abklärung, insbesondere unter Einbeziehung der zunehmend bedeutsamer werdenden genetischen Aspekte, zugutekommen[8].

Die bedarfsgerechte psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung in den MZEB muss durch fachgerechte Leistungsvereinbarungen und aufwandsgerechte Vergütungsvereinbarungen ermöglicht werden. In diese Vereinbarungen einzubeziehen ist die unentbehrliche aufsuchende (zugehende) Arbeitsweise, denn nur sie erlaubt in vielen Fällen

  • die sachgerechte Interpretation von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen auf dem Hintergrund des lebensweltlichen Bedingungsgefüges (sozialer Kontext) und die darauf aufbauenden Interventionen, und
  • die Anleitung und Supervision der Bezugspersonen, seien es Angehörige, Zugehörige oder professionelle Assistenten.

Gleichfalls einbezogen werden muss der besondere Aufwand für Kommunikation und Kooperation mit den anderen Akteuren der gesundheitlichen Versorgung.

6. Zusammenfassung und Empfehlungen

MZEB sollen – unter Berücksichtigung regionaler Bedarfslagen und Angebotsstrukturen – neben somatischen Schwerpunkten psychiatrische und psychotherapeutische Schwerpunkte ausbilden. Sie sollen so dazu beizutragen, die psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungsdefizite der Zielgruppe abzubauen.

Angesichts der Bedeutung somatischer, insbesondere genetischer Faktoren im Bedingungsgefüge von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen der Zielgruppe ist die Verknüpfung von psychiatrischen mit somatischen Schwerpunkten in den MZEB im Interesse einer sachgerechten umfassenden diagnostischen Abklärung und Therapieführung notwendig.

Die DGPPN empfiehlt, 

  1. die psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung der bislang unterversorgten Zielgruppe der Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung ausdrücklich in die Umsetzung des Aktionsplans für ein diverses, barrierefreies und inklusives Gesundheitswesen einzubeziehen,
  2. den potenziellen Beitrag der MZEB zur psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung der Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung in die Überlegungen zur Weiterentwicklung der MZEB-Landschaft in allen Bundesländern einzubeziehen und
  3. die bedarfsgerechte psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung in den MZEB durch fachgerechte Leistungsvereinbarungen und aufwandsgerechte Vergütungsvereinbarungen zu ermöglichen, und zwar unter Berücksichtigung des besonderen Aufwands für die notwendige aufsuchende Arbeitsweise sowie Kommunikation und Kooperation mit anderen Akteuren der Versorgung.

Die DGPPN hat sich einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention[9] gegeben. Aus diesem Selbstverständnis heraus beteiligt sich die DGPPN gern am Dialog.

Die Autoren

Das vorliegende Papier wurde vom DGPPN-Referat „Psychische Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung“ erarbeitet.

 

Literatur

[1] Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (2019): Positionspapier „Zielgruppenspezifische psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung und zusätzlichen psychischen Störungen – Situation, Bedarf und Entwicklungsperspektiven“ (im Folgenden kurz als Positionspapier 2019 bezeichnet)(https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/5311574f4e6d020a1a6d42eb14b430e6724eb36a/2019-09-12_Positionspapier_Referat_GeistigeBehinderung_fin.pdf)

[2] Wesentliche Herausforderungen hinsichtlich der Weiterentwicklung der MZEB sind ausführlich beschrieben bei Seidel, M., Schmidt-Ohlemann, M., del Pilar Andrino, M.  (2022) Die Medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen (MZEB) – Erfordernisse und Herausforderungen für die weitere Entwicklung. Ein Diskussionsbeitrag. Deutsche Vereinigung für Rehabilitation. Diskussionsforum Rehabilitations- und Teilhaberecht. Online-Publikation: (https://www.reha-recht.de/infothek/beitrag/artikel/mzeb-erfordernisse-und-herausforderungen-fuer-die-weitere-entwicklung; letzter Zugriff 2.3.2022)

[3] vgl. Positionspapier 2019. Abschnitt 5.2. Besonderer Bedarf und seine Gründe

[4] vgl. Positionspapier 2019. Abschnitt 5.3. Besonderheiten des Behandlungsprozesses

[5] Soweit Psychiatrische Institutsambulanzen (PIA) einschlägige fachliche Kompetenzen vorhalten und mit den entsprechenden Ressourcen ausgestattet sind, können sie im Hinblick auf das Vorstehende mehr als die Regelversorgungsangebote leisten. 
In konzeptioneller Hinsicht ist erst noch zu leisten, die Leistungsunterschiede von MZEB und PIA im Hinblick auf die Zielgruppe der Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung einerseits, die Formen ihrer Zusammenarbeit – etwa im Rahmen gemeindepsychiatrischer Verbünde – andererseits deutlicher herauszuarbeiten.

[6] vgl. Positionspapier 2019. Abschnitt 5.4.Entwicklungsbedarf der Versorgungsangebote

[7] Fachverbände für Menschen mit Behinderung und Bundesarbeitsgemeinschaft Ärzte für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung (2015): Rahmenkonzeption Medizinische Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen (MZEB). Fassung vom 12.10.2015. (https://www.diefachverbaende.de/files/stellungnahmen/2015-10-12-Rahmenkonzeption_MZEB_2015.pdf; letzter Zugriff 24.1.2022)

[8] Vgl. Positionspapier 2019. Abschnitt 5.5.2.2.4. Medizinische Behandlungszentren für Erwachsene mit geistigen oder schweren Mehrfachbehinderungen

 

Positionspapier zum Download [PDF, 246 KB]

Kontakt

Wissenschaftlicher Dienst der DGPPN

DGPPN-Geschäftsstelle
Reinhardtstraße 29
10117 Berlin

T +49 30 2404 772-12
widi[at]dgppn.de