Demenzdiagnostik für Menschen mit Migrationshintergrund verbessern

In Deutschland hat jeder achte Mensch im Alter ab 65 Jahren einen Migrationshintergrund. Somit gehört auch ein beträchtlicher Teil der Demenzpatientinnen und -patienten zu dieser Gruppe: Nach Hochrechnungen haben in Deutschland mindestens 160.000 Menschen mit einer Demenzerkrankung einen Migrationshintergrund und benötigen möglicherweise eine angepasste medizinische Versorgung. Aufgrund des demographischen Wandels wird diese Zahl künftig deutlich zunehmen. Um diesen Betroffenen und ihren Angehörigen gerecht zu werden, empfehlen die medizinischen Fachgesellschaften DGPPN, DGGPP und DEGAM sowie die Deutsche Alzheimer Gesellschaft eine kultursensitive Demenzdiagnostik für Menschen mit Migrationshintergrund und ein standardisiertes Vorgehen in Anlehnung an die S3-Leitlinien „Demenzen“ (siehe Anhang 1). Zusammenfassend beinhaltet dieses:

  • Anamnese und Untersuchung durch in interkultureller Kompetenz geschultes Personal und bei fehlender bzw. nicht ausreichender Sprachkompetenz unter Hinzuziehung professionell qualifizierter Dolmetscherinnen und Dolmetscher oder durch geschultes muttersprachliches Personal
  • Neuropsychologische Diagnostik mittels mehrsprachiger, kultursensitiver Testverfahren (siehe Anhang 2) durch in interkultureller Kompetenz geschultes Personal und bei fehlender bzw. nicht ausreichender Sprachkompetenz unter Hinzuziehung professionell qualifizierter Dolmetscherinnen und Dolmetscher oder durch geschultes muttersprachliches Personal
  • Labor- und apparative Basisdiagnostik 
  • Konsensuskonferenz mit besonderer Beachtung interkultureller Aspekte wie u.a. kulturspezifische Konzepte von Krankheit und Gesundheit, Pflege und Umgang mit erkrankten Verwandten
  • Diagnosemitteilung und Beratung sowie Begleitung durch muttersprachliches oder in interkultureller Kompetenz geschultes Personal (siehe Anhang 3), ggf. unter Hinzuziehung professionell qualifizierter Dolmetscherinnen und Dolmetscher, zu
    • leitliniengerechter medikamentöser und nicht-medikamentöser Therapiemöglichkeiten bei Demenzerkrankungen mit Schwerpunkt interkultureller Aspekte
      • bei der Medikation sollten ethnopsychopharmakologische Aspekte (unterschiedliche Metabolisierungstypen und Lebensmittel sowie Gewürze) Beachtung finden
    • sozialrechtlichen Themen (Vorsorgevollmacht, Pflegegrad, Ehegattennotvertretungsrecht, etc.)
      • Informationsmaterial sollte in verschiedenen Sprachen vorliegen
    • wohnortnahen, kulturspezifischen Beratungsstellen, kultursensiblen Pflegediensten, Betreuungsangeboten (Tagespflegeeinrichtungen, Seniorenwohnheimen) sowie kultursensiblen nicht-medikamentösen Therapieangeboten (Ergotherapie, Physiotherapie, Logopädie, etc.), Angehörigenbetreuung und -begleitung

 

Anhänge

  1. Ablauf kultursensitive Demenzdiagnostik [PDF, 138 KB]
  2. Kultursensitive und mehrsprachige Testverfahren [PDF, 132 KB]
  3. Kultursensible Beratungsprojekte zum Thema Demenz in Deutschland [PDF, 148 KB]

 

Autorinnen
Prof. Dr. Meryam Schouler-Ocak
Andrea Lohse

Weiterentwicklung und Vernetzung von kultursensiblen Behandlungs- und Beratungsangeboten

Eine wichtige Voraussetzung für den weiteren Ausbau kultursensibler Behandlungs- und Beratungsangebote (vor allem mit dem Schwerpunkt Demenzerkrankungen) ist es, die interkulturelle Kompetenz auf individueller Ebene weiter zu fördern sowie die interkulturelle Öffnung weiter voranzutreiben.

Die interkulturelle Kompetenz auf individueller Ebene wird u. a. gestärkt, indem…

  • Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Berufsgruppen zum Thema interkulturelle Kompetenz (interkulturelle Sensibilität, interkulturelles Wissen, Wissen um kulturelle Aspekte) regelmäßig geschult werden
  • interkulturelle Fallbesprechungen angeboten werden
  • eine kulturkompetente Angehörigenarbeit angeboten wird
  • regelmäßig interkulturelle Inter- und Supervision für Teams angeboten wird
  • Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Berufsgruppen in der Arbeit mit professionell qualifizierten Dolmetschern geschult werden

Die interkulturelle Öffnung erfolgt u. a., indem…

  • spezifische Fort- und Weiterbildungsangebote angeboten werden
  • standardmäßig professionell qualifizierte Dolmetscherinnen und Dolmetscher zur Gewährleistung der Kommunikation eingesetzt werden
  • Informationsmaterialien in verschiedenen Sprachen vorliegen
  • Webseiten in verschiedenen Sprachen gestaltet werden
  • Wegweiser in verschiedenen Sprachen vorhanden sind
  • Mehrsprachige Demenzbegleiterinnen und -begleiter und/oder Genesungsbegleiterinnen und -begleiter mit Migrations- und Fluchthintergrund im Krankenhaus eingesetzt werden (Stichwort Peer-to-Peer-Beratung)
  • demenz- und kultursensible Veranstaltungen (Gottesdienste) angeboten werden
  • mehr niedrigschwellige kultursensible Beratungsangebote etabliert werden
  • der fachinterne Austausch zur interkulturellen Öffnung gefördert wird, u. a. indem Beratungsstellen sich mit anderen kultursensiblen Einrichtungen vernetzen
  • die interkulturelle Öffentlichkeitsarbeit weiter vorangetrieben wird
  • demenz- und kultursensible Krankenhäuser weiter ausgebaut werden
Fachliteratur zum Thema Demenzdiagnostik  
  1. O’Driscoll C, Shaikh M (2017) Cross-Cultural Applicability of the Montreal Cognitive Assessment (MoCA): A Systematic Review. JAD 58:789–801. https://doi.org/10.3233/JAD-161042
  2. Seven ÜS, Ilcin S, Kessler J et al (2019) Entwicklung des Instruments „Cologne Culture ADL“ zur Erfassung der Alltagskompetenz in der Demenzdiagnostik von deutschen und türkischen Menschen. Fortschr Neurol Psychiatr 87:504–510. https://doi.org/10.1055/a-0877-6945
  3. Oliveira AM, Radanovic M, Homem de Mello PC et al (2019) P2-022: RANDOMIZED AND CONTROLLED CLINICAL TRIAL TO EVALUATE A BRAZILIAN OUTPATIENT VERSION OF THE TAP METHOD (TAILORED ACTIVITY PROGRAM) FOR THE TREATMENT OF NEUROPSYCHIATRIC SYMPTOMS IN INDIVIDUALS WITH DEMENTIA. Alzheimer’s & Dementia 15:P578–P579. https://doi.org/10.1016/j.jalz.2019.06.1244
  4. Burns A, Mittelman M, Cole C et al (2010) Transcultural Influences in Dementia Care: Observations from a Psychosocial Intervention Study. Dement Geriatr Cogn Disord 30:417–423. https://doi.org/10.1159/000314860
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  6.  Klimidis S, Tokgoz A (2008) A transcultural perspective on the Mini Mental State Examination. https://www.psykologforeningen.no/content/download/23196/224496/version/1/file/mini_mental_document.pdf. Zugegriffen: 23. März 2023
  7. Bunting M, Jenkins C (2016) Transcultural nursing strategies for carers of people with dementia: Melissa Bunting and Catharine Jenkins investigate the effect of caring among different cultural groups and recommend culturally congruent interventions to support carers. Nursing Older People 28:21–25. https://doi.org/10.7748/nop.28.3.21.s23
  8. Stålhammar J, Hellström P, Eckerström C et al (2022) Neuropsychological Test Performance Among Native and Non-Native Swedes: Second Language Effects. Archives of Clinical Neuropsychology 37:826–838. https://doi.org/10.1093/arclin/acaa043
  9. Kisser JE, Wendell CR, Spencer RJ et al (2012) Neuropsychological Performance of Native versus Non-native English Speakers. Archives of Clinical Neuropsychology 27:749–755. https://doi.org/10.1093/arclin/acs082
  10. Monsees J, Schmachtenberg T, Leiz M et al (2021) EU-Atlas Demenz & Migration: Geschätzte Anzahl, Versorgungssituation und nationale Strategien in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund mit Demenz in der EU, der EFTA und dem Vereinigten Königreich. https://www.dzne.de/fileadmin/Dateien/editors/images/Projekte/EU-Atlas/EU_Atlas_Demenz_und_Migration.pdf. Zugegriffen: 23. März 2023
  11. Carnero-Pardo C (2014) Should the Mini-Mental State Examination be retired? Neurología (English Edition) 29:473–481. https://doi.org/10.1016/j.nrleng.2013.07.005
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