Seit der Schaffung rechtlicher Vorgaben für Patientenverfügungen durch den Gesetzgeber im Jahr 2009 wird über spezielle Aspekte der Anwendung bei der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen diskutiert. Es geht dabei unter anderem um die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Patient eine Unterbringung und Behandlung vorausschauend ablehnen bzw. ihr zustimmen kann. Eine wichtige Frage im praktischen Alltag betrifft den Umgang mit Patientenverfügungen, deren Umsetzung auch die Rechte Dritter berühren würde. Die DGPPN hat diese und weitere Fragen in der vorliegenden Handreichung bearbeitet und durch praktische Hinweise zur Erstellung von und zum Umgang mit Patientenverfügungen von Menschen mit psychischen Erkrankungen ergänzt.
Grundsätzlich steht die Errichtung einer Patientenverfügung jedem volljährigen Menschen offen, unabhängig von der Art und dem Stadium einer Erkrankung (§ 1827 Abs. 3 BGB), obschon der Gesetzgeber bei der Einführung des § 1901a BGB a.F. (inzwischen: § 1827 BGB) vor allem Vorausverfügungen für den Fall lebenslimitierender körperlicher Erkrankungen, welche die Einwilligungsfähigkeit einschränken, im Blick hatte.
Wesentlich für die Gültigkeit einer Patientenverfügung ist, dass sie in einwilligungsfähigem Zustand erstellt wurde [1], dass die Maßnahmen, die für diese Situation abgelehnt oder gewollt werden, ausreichend bestimmt benannt wurden, und schließlich, dass die in ihr enthaltenen Festlegungen zum Zeitpunkt der Umsetzung tatsächlich auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation des Patienten zutreffen.
Die Errichtung einer Patientenverfügung bedarf der Schriftform, setzt aber weder eine ärztliche oder anderweitige fachliche Beratung noch eine notarielle Beglaubigung voraus. [2] Es kommt deshalb nicht selten vor, dass es Patientenverfügungen an der notwendigen Klarheit und Bestimmtheit fehlt. Entsprechend gibt es mittlerweile nicht nur eine Vielzahl von Empfehlungen und Formularen für deren Erstellung, sondern auch ein umfangreiches juristisches Schrifttum und einige gerichtliche Entscheidungen, die deutlich machen, dass sowohl die gesundheitliche Situation als auch die medizinischen Maßnahmen, über deren Durchführung vorausverfügt wird, möglichst konkret beschrieben sein müssen. Allerdings beziehen sich die entsprechenden Vorschläge, die Literatur und auch die Gerichtsentscheidungen nahezu ausschließlich auf Patientenverfügungen im Bereich körperlicher Erkrankungen.
Jüngst ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ergangen, die sich auf einen Patienten bezieht, der im Maßregelvollzug untergebracht war und in einer Patientenverfügung seine Behandlung mit Neuroleptika ausgeschlossen hatte. [3] Diese Entscheidung mit großer Bedeutung für alle Bereiche der Psychiatrie möchte die DGPPN zum Anlass nehmen, ihren Mitgliedern eine aktuelle Handreichung zum Thema Patientenverfügungen von Menschen mit psychischen Erkrankungen zur Verfügung zu stellen.
Der Beschluss des 2. Senats des BVerfG vom 8. Juni 2021 bestätigt zunächst grundsätzlich die Gültigkeit von Patientenverfügungen auch im Kontext der Behandlung von psychischen Erkrankungen. Im konkreten Fall stellt das Gericht fest:
„Staatliche Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG gegenüber einer untergebrachten Person können eine Zwangsbehandlung nicht rechtfertigen, wenn diese die in Rede stehende Behandlung im Zustand der Einsichtsfähigkeit durch eine Patientenverfügung wirksam ausgeschlossen hat.“ Das BVerfG betont aber auch, dass der Betroffene seine Entscheidung mit freiem Willen und im Bewusstsein über deren Reichweite getroffen habe muss.
Wie schon in früheren Entscheidungen des BGH wird in dem Beschluss betont, dass die in der Patientenverfügung niedergelegte Willenserklärung daraufhin auszulegen sei, „ob sie hinreichend bestimmt und die konkrete Behandlungs- und Lebenssituation von ihrer Reichweite umfasst ist“. Von spezieller Bedeutung für die Psychiatrie ist, „dass die autonome Willensentscheidung des Patienten nur so weit reichen kann, wie seine eigenen Rechte betroffen sind. Über Rechte anderer Personen kann er nicht disponieren“. [4]
Ausgehend von diesen Leitsätzen soll im Folgenden zunächst näher beleuchtet werden, unter welchen Bedingungen Patientenverfügungen gültig sind, in denen ein Patient eine Unterbringung und Behandlung vorausschauend ablehnt bzw. ihr zustimmt.
Danach soll diskutiert werden, wie mit Patientenverfügungen umzugehen ist, deren Umsetzung nicht nur die Rechte und Belange des Patienten selbst, sondern auch die Rechte und Belange Dritter berührt (z. B. in Situationen von Fremdgefährdung).
Abschließend werden einige praktische Hinweise zur Erstellung von und zum Umgang mit Patientenverfügungen von Menschen mit psychischen Erkrankungen gegeben.
[1] Das BGB spricht im Zusammenhang mit der Patientenverfügung von Einwilligungsfähigkeit. Verfassungsrechtlich geht es um die (Fähigkeit zur) Selbstbestimmung.
[2] Patientenverfügungen können in einem zentralen Register bei der Bundesnotarkammer hinterlegt werden. Siehe: https://www.vorsorgeregister.de/. Seit dem 1.01.2023 können auch Ärzte Einblick in dieses Register nehmen.
[3] BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. Juni 2021, 2 BvR 1866/17; 2 BvR 1314/18
[4] BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. Juni 2021 , 2 BvR 1866/17 , Rn. 77
Drei wesentliche Voraussetzungen machen die Gültigkeit einer Patientenverfügung aus. Es müssen a) die Behandlungssituation, in der die Verfügung gelten soll, und b) die Maßnahme beschrieben sein, in die eingewilligt oder die untersagt werden soll. Schließlich muss die Patientenverfügung c) in einem Zustand der Einwilligungsfähigkeit und im Bewusstsein über ihre Reichweite abgefasst worden sein.
Die Stellungnahme der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten bei der Bundesärztekammer von 2018 präzisiert dies folgendermaßen:
„Die Patientenverfügung muss einerseits die Behandlungssituation, in der sie gelten soll, konkret beschreiben (Situationsbeschreibung) und andererseits die ärztliche Maßnahme, in die eingewilligt oder die untersagt wird, genau bezeichnen (Handlungsanweisung). Dies kann etwa in Form eines Beispielkatalogs unter Nennung spezifischer Krankheitszustände, Behandlungsstadien und Therapiemaßnahmen, insbesondere im Hinblick auf ein bestimmtes Behandlungsziel, erfolgen. Diese Erklärung ist für andere verbindlich. Eine Patientenverfügung setzt zum Zeitpunkt der Erstellung die Einwilligungsfähigkeit des Patienten voraus; sie bedarf der Schriftform (§ 1901a Abs. 1 S. 1 BGB).“
Im Kontext psychiatrischer Behandlungen könnte eine Behandlungssituation zum Beispiel folgendermaßen beschrieben sein: „Wenn ich erneut an einer manischen Episode erkranken sollte, …“.[5] Ärztliche Maßnahmen, in die eingewilligt bzw. die untersagt werden sollen, könnten wie folgt benannt werden: „… wünsche ich eine Behandlung mit dem Antipsychotikum Clozapin, weil ich es mir durch dieses Medikament früher immer besser ging, und ich lehne eine Behandlung mit Haloperidol ab, weil ich unter diesem Medikament mehrfach unter sehr quälenden motorischen Nebenwirkungen gelitten habe“. Begründungen für die Zustimmung oder Ablehnung einer Behandlung müssen nicht zwingend formuliert werden, sie stellen aber die Wünsche des Patienten in einen besser verständlichen Gesamtkontext.
Wichtig ist, dass aus der in einer Patientenverfügung festgelegten Zustimmung zu einer Behandlung keine für den Arzt verbindliche Anweisung folgt, diese Behandlung in jedem Fall umzusetzen. Der Arzt soll und muss die Wünsche des Patienten dann umsetzen, wenn die gewünschte Behandlung aus medizinischer Sicht indiziert ist. Der Arzt sollte hingegen keine Behandlungen durchführen, die aus ärztlicher Sicht nicht indiziert sind, zum Beispiel weil sich das gewünschte Medikament nicht zur Behandlung der in Frage stehenden Erkrankung eignet oder für den konkreten Patienten eine Gefährdung bedeutet, die den zu erwartenden Nutzen überwiegt.
Deshalb orientiert sich die faktische Durchführung von medizinischen Maßnahmen nicht ausschließlich an dem in der Patientenverfügung niedergelegten Patientenwillen, sondern auch an der medizinischen Indikation. Die Prüfung der medizinischen Indikation ist eine Aufgabe der behandelnden Ärzte.
Bei der vorausverfügten Ablehnung von medizinischen Maßnahmen spielt die Prüfung der medizinischen Indikation hingegen keine Rolle. Solche Maßnahmen können durch Patienten auch dann abgelehnt werden, wenn für sie aus dieser Ablehnung ein schwerer gesundheitlicher Schaden (z. B. Chronifizierung einer Erkrankung, Verwahrlosung) oder gar der Tod resultieren.
[5] Die Behandlungssituationen sollten möglichst genau beschrieben werden. Beispielsweise: „wenn ich mich blamiere“ oder „wenn ich überhöhte finanzielle Ausgaben tätige“.
Psychiatrische Teams können mit schwierigen ethischen Dilemma-Situationen konfrontiert werden, wenn sie einerseits die Selbstbestimmung der Patienten, die ihren Ausdruck in der Patientenverfügung findet, respektieren und andererseits zum gesundheitlichen Wohl ihrer Patienten handeln und ihrer Fürsorgepflicht nachkommen wollen.
Mittels einer Patientenverfügung können grundsätzlich Untersuchungen des Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen und ärztliche Eingriffe abgelehnt werden, doch gibt es eine Reihe von Ausnahmen. Nicht abgelehnt werden kann die bloße Unterbringung zur Gefahrenabwehr im Sinne der Eigen- und/oder Fremdgefährdung. Deswegen kann eine Patientenverfügung die Unterbringung nach dem PsychK(H)G nicht verhindern. Dies gilt grundsätzlich auch für die betreuungsrechtliche Unterbringung, es sei denn, sie erfolgt zur Heilbehandlung.[6] Dann darf die betreuungsrechtliche Unterbringung tatsächlich nur erfolgen, wenn sie dem vorausverfügten oder mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht. Die betreuungsrechtliche Unterbringung zur Heilbehandlung kann in einem solchen Fall mittels einer Patientenverfügung wirksam abgelehnt werden. Nicht mittels einer Patientenverfügung abgelehnt werden kann allerdings eine psychiatrische Untersuchung und Diagnosestellung zur Klärung der Erforderlichkeit einer öffentlich-rechtlichen oder zivilrechtlichen Unterbringung bzw. einer Betreuerbestellung oder auch im Rahmen von Strafverfahren. Jedoch ist der Betroffene zur aktiven Mitwirkung an der Untersuchung nicht verpflichtet.
Verbindlich ist eine Patientenverfügung nur, wenn der Verfügende seine Entscheidung im Bewusstsein ihrer Reichweite trifft.[7] Dazu muss zunächst, wie oben ausgeführt, die Lebens- und Behandlungssituation beschrieben werden und die Patientenverfügung muss sich auf konkrete Maßnahmen beziehen. Darüber hinaus muss aber auch aus der Patientenverfügung ersichtlich sein, dass der Betroffene sich zumindest im Groben über die möglichen Konsequenzen der Ablehnung oder Zustimmung zu einer Behandlung im Klaren ist, also ggf. weiß, dass eine Ablehnung der Behandlung schwerste, gar irreversible Schäden oder eine Chronifizierung des Krankheitsbildes mit den entsprechenden Folgen etwa für die Fortdauer einer freiheitsentziehenden Maßnahme zur Folge haben kann.[8]
Zwar kann ein Patient grundsätzlich auf die Information über die für die Behandlung wesentlichen Umstände wie Diagnose, voraussichtliche gesundheitliche Entwicklung und Therapiemöglichkeiten sowie auf eine Aufklärung als Grundlage der Einwilligung ausdrücklich verzichten.[9] Das damit angesprochene Recht auf Nichtwissen, das wesentlicher Bestandteil des Selbstbestimmungsrechts ist,[10] bedeutet jedoch nicht, dass ein Blankoverzicht auf Information und Aufklärung zulässig und eine Einwilligung oder Nicht-Einwilligung in eine Behandlung deshalb auch dann wirksam wäre, wenn der Patient diese ohne jegliche Information und somit ohne Bewusstsein über die Reichweite seiner Erklärung erteilt oder versagt. Vielmehr ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass der Patient jedenfalls „die Erforderlichkeit der Behandlung sowie deren Chancen und Risiken zutreffend erkannt haben“ müsse.[11]
[6] Olzen: Die Auswirkungen des Betreuungsrechtsänderungsgesetzes (Patientenverfügungsgesetz) auf die medizinische Versorgung psychisch Kranker. Gutachten für die DGPPN. 2.12.2009; Brosey: Psychiatrische Patientenverfügungen nach dem 3. Betreuungsänderungsgesetz. BtPrax 2010, S. 161-167; Henking/Bruns: Die Patientenverfügung in der Psychiatrie. GesR 2014, S. 585-590.
[7] BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats 08. Juni 2021; 2 BvR 1866/17, Rn. 74
[8] BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. Juni 2021, 2 BvR 1866/17, Rn. 75
[9] vgl. §§ 630c Abs. 4 und 630e Abs. 3 BGB
[10] Spickhoff/Spickhoff, 3. Aufl. 2018, § 630c BGB Rn. 45
[11] Bundestags-Drucksache 17/10488, S. 22 f.
Retrospektiv ist die Einwilligungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Abfassung einer Patientenverfügung in der Regel schwer zu beurteilen, vor allem wenn im Rahmen der Abfassung kein ärztlicher Kontakt und damit keine ärztliche Beratung stattgefunden haben. Eine Einschränkung der Einwilligungsfähigkeit kann immer nur anhand konkreter Anhaltspunkte festgestellt werden. Das Vorhandensein einer psychischen Erkrankung zum Zeitpunkt der Abfassung oder die vermeintliche Unvernünftigkeit des Inhalts einer Patientenverfügung sind für sich genommen nicht hinreichend, um das Vorliegen von Einwilligungsfähigkeit zu verneinen. Das Vorhandensein einer psychischen Erkrankung kann jedoch Veranlassung geben, die Frage der Einwilligungsfähigkeit bei Errichtung der Patientenverfügung genauer zu prüfen, um eine Selbstschädigung durch eine unerkannt rechtlich unwirksame Patientenverfügung auszuschließen.[12]
Bei der Prüfung ist zu beachten, dass es eine generelle Einwilligungs(un)fähigkeit nicht gibt. Es ist stets für jede diagnostische oder therapeutische Maßnahme individuell zu klären, ob der Betroffene über die für die Entscheidung im konkreten Fall erforderliche Einsichts- und Steuerungsfähigkeit (als kognitives und voluntatives Element der Einwilligungsfähigkeit) verfügt.[13] „Als einwilligungsfähig ist der Betroffene anzusehen, wenn er Art, Bedeutung, Tragweite und auch die Risiken der Maßnahme zu erfassen und seinen Willen hiernach zu bestimmen vermag“.[14] Zu fragen ist mithin, ob der Betroffene bei Abfassung der Patientenverfügung bezogen auf die Behandlung, um die es geht, über das erforderliche Informationsverständnis und Urteilsvermögen, die notwendige Fähigkeit zur Krankheits- und Behandlungseinsicht und über die Fähigkeit verfügt hat, im Lichte der bestehenden Alternativen eine Entscheidung zu treffen und diese in einer Patientenverfügung zum Ausdruck zu bringen. (DGPPN, 2014).
Wenn sich am Ende dieser Prüfung keine sicheren Hinweise auf eine Einwilligungsunfähigkeit zum Zeitpunkt der Abfassung der Patientenverfügung finden, aber begründete Zweifel bleiben, muss eine weitere Aufklärung auf der rechtlichen Ebene erfolgen. Wie schwierig eine solche Entscheidung sein kann, zeigt allerdings eine Formulierung des BVerfG:
„Ob ein Betroffener einsichtsfähig[15] war, als er eine bestimmte Behandlung ablehnte, müssen die Gerichte auf der ersten Stufe – gegebenenfalls mit sachverständiger Hilfe – aufklären. Steht – wie hier – ein schwerwiegender Eingriff in ein hochrangiges Grundrecht in Frage, dürfen allerdings Unklarheiten in der Bewertung von Tatsachen grundsätzlich nicht zu Lasten des Grundrechtsträgers gehen.“[16]
Da unterschiedliche Aspekte des Freiheits-Grundrechts des Betroffenen berührt sein können, nämlich sowohl sein Recht auf eine freie und selbstbestimmte Entscheidung als auch sein Recht auf Leben und Gesundheit und damit auf eine adäquate medizinische Behandlung, wird im Zweifel in jedem Einzelfall zu beurteilen sein, worin der schwerwiegendere Eingriff liegt.
Eine wirksame Patientenverfügung ist für Ärzte rechtlich bindend. Für die Umsetzung der darin gewünschten bzw. nicht gewünschten medizinischen Maßnahmen bedarf es in Fällen, in denen der Patientenwille eindeutig aus der Patientenverfügung abgeleitet werden kann, nicht der Bestellung eines rechtlichen Betreuers. Können Unklarheiten über den in einer Patientenverfügung niedergelegten Patientenwillen nicht beseitigt werden, ist ein rechtlicher Betreuer zu bestellen, sofern durch den Patienten im Voraus kein Vorsorgebevollmächtigter bestimmt worden ist. Bestehen zwischen Patientenvertreter und behandelnden Ärzten unterschiedliche Auffassungen über den zugrunde zu legenden Patientenwillen, ist das Betreuungsgericht anzurufen (§ 1829 BGB). Das Betreuungsgericht ist stets anzurufen, wenn eine Behandlung gegen den natürlichen Willen einer Person durchgeführt werden soll (sog. Zwangsbehandlung) (§ 1832), und zwar auch dann, wenn der Patient in seiner Patientenverfügung im Voraus in die Behandlung gegen seinen natürlichen Willen eingewilligt hat. In diesem Fall kommt dem rechtlichen Betreuer die Aufgabe zu, die rechtlichen Voraussetzungen einer Zwangsbehandlung zu prüfen und dabei auch die Patientenverfügung zu berücksichtigen (§ 1832).
[12] BeckOGK/Diener, Bearbeitungsstand: 1.2.2022, § 1901a BGB, Rn. 42
[13] BeckOGK/Diener, Bearbeitungsstand: 1.2.2022, § 1901a BGB, Rn. 39 u. 43
[14] Bundestags-Drucksache 16/8442, S. 12 f.
[15] Einsichtsfähigkeit ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Einwilligungsfähigkeit, um die es hier eigentlich geht. Die Einwilligungsfähigkeit besteht aus zwei Teilaspekten, die kumulativ erfüllt sein müssen: der Einsichtsfähigkeit und der Steuerungsfähigkeit. (Bundestags-Drucksache 16/8442, S. 12 f).
[16] BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. Juni 2021, 2 BvR 1866/17, Rn. 74
Ziel und Zweck einer Patientenverfügung ist es, in die Zukunft gerichtet festzulegen, in welche medizinischen Maßnahmen eine Person einwilligen bzw. nicht einwilligen möchte. Eine solche Vorausverfügung kann aber nur Wirkung entfalten, wenn und soweit die verfügende Person dispositionsbefugt und ihre Einwilligung zureichende Bedingung für die Legitimität der Durchführung der Maßnahme ist.
Dies ist dann nicht der Fall, wenn die Maßnahme der Abwehr von Gefahren für Dritte dient. Die Durchführung solcher Maßnahmen kann mittels einer Patientenverfügung nicht rechtswirksam abgelehnt werden.[17] Zu solchen Maßnahmen gehören z. B. die öffentlich-rechtliche Unterbringung zur Abwehr einer Fremdgefährdung, die Unterbringung im Maßregelvollzug, die Fixierung oder Isolierung zur Abwehr einer Fremdgefährdung und grundsätzlich auch die Verabreichung eines Medikaments in Kontext der Fremdgefährdung, soweit diese Maßnahme zur Gefahrenabwehr erforderlich ist und es für diese eine rechtliche Grundlage gibt.[18] Auch kann bspw. eine zwangsweise Absonderung nach dem Infektionsschutzgesetz (§ 30 IfSG) nicht mittels einer Patientenverfügung ausgeschlossen werden.
Ob eine Medikamentengabe zur Abwehr von Gefahren für Dritte als Behandlungsmaßnahme zu klassifizieren ist, wird kontrovers diskutiert (vgl. Pollmächer, 2019), und es ist auch bisher ungeklärt, ob in einer Situation der Fremdgefährdung die Verabreichung von Medikamenten im strengen Sinne nur der Abwehr dieser Gefahr oder mittelbar nicht auch der Behandlung der Grunderkrankung dienen darf.
Wenngleich eine Patientenverfügung die Durchführung einer Schutzmaßnahme im Interesse Dritter also nicht wirksam ausschließen kann, so kann sie doch beachtliche Hinweise hinsichtlich der Vorgehensweise in einer solchen Situation enthalten. Auch zur Abwehr von Gefahren für Dritte müssen Maßnahmen gegen oder ohne den Willen des Betroffenen so gewählt werden, dass sie das mildeste verfügbare Mittel darstellen. Wenn ein Patient zum Beispiel in einer Patientenverfügung festgelegt hat, dass er im Fall der Unumgänglichkeit einer Zwangsmaßnahme eine Fixierung einer Isolierung vorzieht, oder dass er dann, wenn eine Zwangsmedikation unumgänglich ist, ein bestimmtes Medikament bevorzugt, dann ist dies bei der Wahl der konkreten Maßnahme zur Abwehr von Gefahren für Dritte zu berücksichtigen.
Grundsätzlich sind Patientenverfügungen allen Menschen zu empfehlen, da jeder durch eine Erkrankung oder einen Unfall in die Situation kommen kann, seine Einwilligungsfähigkeit vorübergehend oder dauerhaft zu verlieren. Im Hinblick auf Menschen mit psychischen Erkrankungen erscheinen Patientenverfügungen für all diejenigen empfehlenswert, deren Erkrankung bekanntermaßen phasenweise oder dauerhaft die Einwilligungsfähigkeit beeinträchtigen kann. Phasenweise ist die Einwilligungsfähigkeit bei schweren Verläufen der bipolaren Störung oder der Schizophrenie eingeschränkt. Dauerhafte Einschränkungen sind zum Beispiel typisch für eine Demenzerkrankung, die mit ihrem Fortschreiten zu einem zunehmenden Verlust von Einwilligungsfähigkeit führt.
Insbesondere bei Menschen mit den genannten Krankheitsbildern sollten die in der psychiatrischen Gesundheitsversorgung Tätigen aktiv auf die Möglichkeit von Patientenverfügungen hinweisen und entsprechende Beratungs- und Unterstützungsangebote bereitstellen. Dies gilt umso mehr, wenn es bei phasenweise verlaufenden psychischen Erkrankungen bei einer betroffenen Person in der Vergangenheit bereits zu psychischen Krisensituationen mit Unterbringungen und Zwangsmaßnahmen gekommen ist.
Um spätere Unklarheiten bei der Umsetzung einer Patientenverfügung zu vermeiden und negative Konsequenzen einer Patientenverfügung für betroffene Personen zu verhindern, sollten die in der psychiatrischen Gesundheitsversorgung Tätigen Beratung und Unterstützung bei der Abfassung von Patientenverfügungen anbieten und Patienten sollten sich dieser Unterstützung bedienen. Im Beratungsprozess sollte darauf geachtet werden, dass Patientenverfügungen hinreichend bestimmt sind und die Lebenssituation, für die ein Behandlungswunsch oder eine Behandlungsablehnung gelten sollen, möglichst konkret beschrieben wird. Im Fall von Behandlungsablehnungen sollte zudem sichergestellt und dokumentiert werden, dass sich Betroffene der Grenzen und der potenziellen Konsequenzen ihrer Patientenverfügung für zukünftige Krisensituationen, die mit Eigen- oder Fremdgefährdung einhergehen können, bewusst sind.
Zu Patientenverfügungen gibt es eine Reihe von Vorlagen, die im Internet frei verfügbar sind. Auch das Bundesministerium der Justiz stellt eine entsprechende Vorlage und Informationsmaterial zur Verfügung, jedoch sind diese Materialien nicht auf den spezifischen Kontext der Psychiatrie zugeschnitten. Die Kommission „Ethik und Recht“ der DGPPN beabsichtigt daher, eine eigene Vorlage für Patientenverfügungen zu entwickeln und diese allen Interessierten kostenlos zum Download zur Verfügung zu stellen.
[17] BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. Juni 2021, 2 BvR 1866/17, 2 BvR 1314/18. Eine Zustimmung scheint allerdings möglich. Ein Patient kann in einer Patientenverfügung z. B. festlegen: „Wenn ich im Rahmen eines manischen Erregungszustandes das Personal einer psychiatrischen Station bedrohe oder gar angreife, stimme ich einer 5-Punkt Fixierung zu.“ Dennoch ist eine entsprechende richterliche Genehmigung notwendig.
[18] Hierzu existieren in den PsychK(H)G und Maßregelvollzugsgesetzen der Länder unterschiedliche Regelungen, siehe die entsprechende ausführliche Darstellung auf der DGPPN Homepage (https://www.dgppn.de/schwerpunkte/menschenrechte/uebersicht-psychKGs.html).
Patientenverfügungen sind von Behandlungsvereinbarungen abzugrenzen. Letztere sind als bilaterale Verträge zu verstehen, die zwischen einem Patienten und einem Arzt oder einer Klinik geschlossen werden. Anders als eine Patientenverfügung setzt eine Behandlungsvereinbarung nicht zwingend die Einwilligungsfähigkeit des Patienten bei Abschluss voraus. Deshalb kann eine Behandlungsvereinbarung zwar wertvolle Hinweise auf den mutmaßlichen Patientenwillen enthalten, auch stellt sie eine vertrauensbildende Maßnahme dar, ersetzt aber eine Patientenverfügung in aller Regel nicht.
Im Hinblick auf die Einwilligungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Abfassung einer Patientenverfügung ist es ratsam, durch einen Arzt – im Fall von psychischen Erkrankungen durch einen Psychiater, in der Patientenverfügung bestätigen zu lassen, dass Anhaltspunkte für eine Beeinträchtigung der Einwilligungsfähigkeit nicht vorlagen. Dies hilft dabei, späteren Unklarheiten und Zweifeln an der Einwilligungsfähigkeit vorzubeugen. Insbesondere wenn die Patientenverfügung Behandlungsablehnungen enthält, die in der Zukunft zu negativen Konsequenzen für die Gesundheit der betroffenen Person (z. B. Verschlimmerung oder Chronifizierung einer an sich behandelbaren Erkrankung) und zur Notwendigkeit von evtl. dauerhafter Unterbringung und freiheitsentziehenden Maßnahmen führen können, ist es empfehlenswert, ärztlicherseits zu dokumentieren, dass diese potenziellen Konsequenzen bedacht und besprochen worden sind. Die Bestätigung der Einwilligungsfähigkeit erfolgt am besten durch den Arzt, der den Patienten auch bei der Abfassung der Patientenverfügung beraten hat.
Es empfiehlt sich, die Patientenverfügung im zentralen Vorsorgeregister zu hinterlegen[19]. Zusätzlich sollte eine Kopie beim behandelnden Arzt bzw. der behandelnden Klinik, den nächsten Vertrauenspersonen und dem ggf. vorhandenen gesetzlichen Betreuer oder Vorsorgebevollmächtigten hinterlegt werden. Auch eine entsprechende Eintragung in einem Krisenpass, wenn es einen solchen gibt, ist sinnvoll, ebenso wie ein Kärtchen im Portemonnaie mit einem Hinweis auf die Patientenverfügung.
Die betreuenden Ärzte, etwaige Bevollmächtigte oder Betreuer und seit dem 1.01.2023 u. U. die Ehegatten nach § 1358 BGB sind dann verpflichtet, die Inhalte der Patientenverfügung bei allen Behandlungsentscheidungen zu beachten, soweit sie die weiter oben genannten Voraussetzungen für ihre Gültigkeit erfüllt. Bestehen hinsichtlich der inhaltlichen Auslegung Unterschiede zwischen den behandelnden Ärzten und dem Vertreter des Patienten, entscheidet zunächst der Betreuer. Wenn eine Behandlung oder deren Unterlassung mit erheblicher Gesundheitsgefährdung oder Lebensgefahr verbunden sein kann, muss das Betreuungsgericht zur Klärung eingeschaltet werden. Dasselbe gilt, wenn es keinen Vertreter des Patienten gibt und die behandelnden Ärzte unsicher in der Auslegung der Patientenverfügung sind. Dann ist auf die Bestellung eines Betreuers hinzuwirken.
Finden sich Hinweise darauf, dass der aktuell nicht einwilligungsfähige Patient auch zum Zeitpunkt der Abfassung der Patientenverfügung nicht einwilligungsfähig war (z. B., weil bekannt ist, dass der Patient in diesem Zeitraum psychotisch war, oder weil der Inhalt der Patientenverfügung nicht zu früher geäußerten Behandlungswünschen oder allgemeinen Überzeugungen des Patienten passt) dann muss der Betreuer oder Bevollmächtigte diesen Zweifeln nachgehen. Falls in einer solchen Situation weder ein Betreuer oder Bevollmächtigter vorhanden ist, muss eine Betreuung eingerichtet werden.
Um den Überblick zu erleichtern wurde nachstehendes Flussdiagramm entworfen, in dem ein idealtypischer Entscheidungsfindungsprozess zur Frage der Umsetzung einer Patientenverfügung aufgezeigt wird.
Abbildung 1: Entscheidungsbaum zur Umsetzung einer Patientenverfügung.
Autorinnen und Autoren für die Kommission Ethik und Recht der DGPPN
Prof. Dr. Arno Deister
Dr. Jakov Gather
Prof. Dr. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank
Prof. Dr. Hanfried Helmchen
Prof. Dr. Dr. Andreas Heinz
Prof. Dr. Tanja Henking, LL.M.
Matthias Koller
Prof. Dr. Jürgen L. Müller
Prof. Dr. Sabine Müller
Prof. Dr. Thomas Pollmächer
Prof. Dr. Henning Saß
Prof. Dr. Tilman Steinert
Korrespondenzadresse
Präsident DGPPN
Reinhardtstr. 29
10117 Berlin
Telefon: 030 240 4772 0
E-Mail: praesident@dgppn.de
zum Download der Praxisempfehlung [PDF, 512 MB]
Brosey D: Psychiatrische Patientenverfügungen nach dem 3. Betreuungsänderungsgesetz. BtPrax 2010, S. 161-167
Bundesärztekammer/Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (2018) Hinweise und Empfehlungen zum Umgang mit Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen im ärztlichen Alltag. Dtsch Ärztebl 115(51–52): A2434–A2441. https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/_old-files/downloads/pdf-Ordner/Patienten/Hinweise_Patientenverfuegung.pdf
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) (2014) Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung psychisch erkrankter Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGPPN. Nervenarzt 85(11):1419–1431. doi: 10.1007/s00115-014-4202-8
Henking T, Bruns H: Die Patientenverfügung in der Psychiatrie. GesR 2014, S. 585-590
Olzen D: Die Auswirkungen des Betreuungsrechtsänderungsgesetzes (Patientenverfügungsgesetz) auf die medizinische Versorgung psychisch Kranker. Gutachten für die DGPPN. 2.12.2009
Pollmächer T (2019) Zur Legitimität fremdnützigen Handelns in der Medizin und speziell in der Psychiatrie. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 13:4–12. https://doi.org/10.1007/s11757-018-00517-0